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Tiefschlag

Tiefschlag

Titel: Tiefschlag Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Baker
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einfach nur eine Verlagerung statt. Räuber und Straßendiebe orientierten sich auf andere Reviere, die nicht von einer Kamera abgedeckt waren. Gleichzeitig fanden sie immer auch Mittel und Wege, die Technologie zu umgehen. «Es sind uns schon Kameras zerschossen worden», sagte Rockwell. «Wenn man im Kontrollraum sitzt und eine Kamera fällt aus, dann denkt man nicht unmittelbar, daß sie ausgeschossen worden ist, sondern geht vielmehr von einem Systemfehler aus. Bis man alle Tests durchgeführt hat, haben die Leute, die die Kamera ausgeschossen haben, längst losgelegt und getan, was immer sie tun wollten. Mit einem Rammbock ins Juweliergeschäft zum Beispiel, und nun sind sie längst auf und davon.»
    Sam ließ ihn in seinem großen Büro zurück. Irgendwo in dem Gebäude klapperte eine einsame Schreibmaschine — kein Mensch würde sie reparieren, falls sie mal krank wurde. Die moderne Technologie hatte sie ans Ende des Regals geschoben. Falls die Schreibmaschine ein Glückspilz war, dann würde sie eine Zukunft haben — im Museum.
     
    Konfrontiert mit der Aussicht, ins Büro zurückzukehren, erinnerte sich Sam, daß Geordie mehrere Einzelhändler in Micklegate bislang nicht hatte befragen können. Er beschloß, sie ausfindig zu machen. Als Geordie jemanden wegen Informationen angesprochen hatte, war es mehr als einmal passiert, daß man ihn an der Nase herumgeführt hatte. Geschäftsleute waren die übelsten Gesetzesbrecher. Und Geschäftsleute im Alter von dreißig bis vierzig wichen Geordie ganz besonders gern aus. Bei Frauen war es das genaue Gegenteil, sie hielten Geordie gern länger fest, als es seine Fragen eigentlich erfordert hätten. Frauen gaben ihm Kekse, Familiengeschichten, redeten über ihre Ehen. Geordie nahm alles, wie es kam. Genau wie er dem Mittdreißiger-Geschäftsmann glaubte, der ihm sagte, er habe einen wichtigen Termin, glaubte er auch der Frau, die ihm erzählte, er werde groß und stark von ihren Keksen.
    Aber niemand versuchte, Sam Turner auszuweichen. Als der Nachmittag sich seinem Ende näherte, hatte er trotzdem keine wirklich neuen Informationen ausgegraben. Nachdem er zum wiederholten Mal in ein Schneegestöber geraten war, fühlte sich Sam klamm und durchgefroren. Sam schwor sich zum dritten Mal hintereinander, daß sein nächster Gesprächspartner gleichzeitig auch der letzte des Tages sein würde. Er betrat ein Gebrauchtmöbellager und stellte sich dem Inhaber vor.
    Der Mann war korpulent. Schwere Knochen mit reichlich weißem schwammigem Fleisch. Sein Bauch schwabbelte beim Gehen hin und her, sein Hintern ahmte diesem Beispiel nach, während er dem Rest folgte. Er hatte noch ein paar eigene Zähne. Sie waren abgeschliffen und schwarz, aber deutlich erkennbar seine eigenen. Der Mann hatte eine so üble Akne, die nur durch eine Kompletthäutung zu heilen war. Und zur Krönung hatte er sich als Aftershave für Essence de Urinal entschieden.
    Über seinem Stuhl im Büro hing ein kleines handgemaltes Schild mit der Aufschrift: CLAUDE WHITE, INHABER. Das war auch gut so, denn nachdem sich Sam vorgestellt hatte und obwohl er wartete, kam der Mann nicht dazu, sich vorzustellen.
    Er war beschäftigt, nahm alte Musikbox-Singles aus dem einen Karton und legte sie, in keiner erkennbaren Ordnung, in einen anderen Karton. Zwar war das Aftershave recht intensiv, aber Claudes Rasierklinge hatte keine sonderlich gute Arbeit auf seinem Gesicht geleistet. An zwei Stellen des Kinns sowie unter der Nase standen noch dicke Haarbüschel. Aber vielleicht war das ja auch gar keine Nase. Das Ding befand sich zwar an der richtigen Stelle, sah aber aus, als sei es von einem seiner inneren Organe ersetzt worden, der Leber vielleicht, oder einer Niere? Etwas, das ein dichtes Geflecht außen liegender Blutgefäße benötigte. Wer immer die Operation empfohlen hatte, ein Freund von Claude White war’s jedenfalls nicht.
    Er trug hohe, schwarze Schuhe ohne Schnürsenkel, eine anthrazitfarbene Hose, die möglicherweise einmal Bestandteil eines Anzuges gewesen sein mochte und nun von einem Seil hochgehalten wurde, und zur Abrundung einen Angorapullover mit Löchern an beiden Ellbogen. Sam befahl seinem Gehirn, den Mann anzulächeln, war jedoch nicht sicher, ob es die Anweisung tatsächlich bis zu seinem Gesicht schaffte. Er versuchte, unvoreingenommen zu bleiben. Wer war er denn, sich ein Urteil zu erlauben? Claude könnte durchaus ein Flüchtling sein, der Katastrophenhilfe brauchte, ebenfalls möglich

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