Tiefschlag
war, daß er einen radikalen modischen Akzent setzen wollte.
Immerhin, das Millennium rückt bedrohlich näher, das Firmament befindet sich in Aufruhr, der Weltuntergang naht. Was versteht ein Privatschnüffler schon von solchen Dingen?
Claude beendete das Umpacken der Ex-Musikbox-Singles und ließ sich schwer auf einen Sessel fallen, dessen Polsterung nur noch zur Hälfte vorhanden war. Mit den abgebrochenen schwarzen Nägeln der linken Hand kratzte er an einem haarigen Büschel auf seinem Gesicht. Er sah Sam an und deutete mit dem Kopf auf einen anderen Sessel. Der Sessel schien im Verlauf seines Lebens bereits schwerere Lasten getragen zu haben als Sam, obwohl Sam nun durchaus der Strohhalm sein mochte, der ihm das Genick brach. Andererseits brachte es nichts, den Mann unnötig zu verärgern, wo er doch offensichtlich versuchte, eine Kommunikation aufzubauen.
Als Sam saß, schraubte Claude den Deckel einer Thermosflasche ab und schüttete eine braune kalte Flüssigkeit in zwei angeschlagene Tassen. Sam schaute sich um nach Untertassen, Teelöffeln, Zuckertopf und Milchkännchen, vielleicht könnte er ja einen Beitrag zu ihrer kleinen Teegesellschaft leisten, aber es schien ein zwangloses Beisammensein zu werden. Er hob die Tasse an die Lippen und neigte sie leicht, so daß nur eine winzige Menge in seinen Mund kam. Nun konnte er «bitter» zu den Deskriptoren «braun» und «kalt» hinzufügen, ohne jedoch eine eindeutigere Bezeichnung dafür zu finden.
Er öffnete die Knöpfe seiner Jacke. Claude verfeuerte Holz in einem Bollerofen, der sengende Hitze abstrahlte. Nach der Eiseskälte auf der Straße war es zuerst durchaus angenehm, aber schon nach wenigen Minuten hätte man doch gern mehr Abstand zwischen sich und den Herd gebracht, als es das winzige Büro zuließ.
«Kennen Sie Marnie?» fragte Claude.
Sam schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich an einen Hitch-cock-Film, aber irgendwie glaubte er nicht, daß Claude sich daran erinnern würde. Er ließ den Mann reden.
«War mal ein echtes Prachtweib», fuhr Claude fort. «Heute ist sie nur noch schrecklich.» Sein Blick wanderte zu den Dachsparren der Lagerhalle, und eine Weile meinte Sam, den guten Claude verloren zu haben. Als wäre der Typ jetzt mit dem Sinn des Lebens beschäftigt. Aber er legte nur eine Kunstpause ein. «Irgendwas zerfrißt sie», sagte er. «Hat alles weggefressen, was mal prächtig war, und nur noch das Scheußliche übriggelassen. Hat auch ihr Hirn weggefressen. Kein Schimmer, wo sie ist. Manchmal scheint sie zu verstehen, man denkt, sie redet vernünftig, und dann fängt sie an zu schreien. Völlig weggetreten.»
Sam unterbrach. Er wollte nichts über Claudes Liebesieben hören. Glaubte nicht mal, daß er überhaupt eines besaß. Das einzige, was Claude in einer mondhellen Nacht je auspackte, waren seine Zähne. «Marnie? Ich weiß nicht, wer sie...»
«Ich sag’s Ihnen», sagte Claude mit der Autorität eines Menschen, der alle Antworten kennt. Sam lehnte sich zurück. Okay, Claude, dachte er. Ich laß es über mich ergehen.
«Sie war den ganzen Nachmittag draußen unterwegs», fuhr Claude fort. «Schlimm, ganz schlimm. Strümpfe mit großen Löchern, der Saum von ihrem Mantel hing runter. Es gab Tage, da hab ich sie hereingebeten, ihr was zu trinken angeboten, was zu essen. Aber es ist, als würde man ein Tier füttern, verstehen Sie, wenn man einen Hund oder eine Katze gesehen hat, die mißhandelt wurde. Mißtrauisch, verstehen Sie, was ich meine? Die Augen immer in Bewegung, als hätte sie Angst, man würde über sie herfallen.»
Er schüttelte den Kopf. «Gab vielleicht mal ’ne Zeit, da wär ich über sie hergefallen. Aber heute nicht mehr. Die letzten zehn Jahre nicht mehr. Sie verrottet.
Ich hab sie auf der anderen Straßenseite Vorbeigehen sehen, dann ist sie auf dieser Seite wieder zurückgekommen. Wenn’s ein bißchen früher gewesen wäre, hätte ich sie ja hereingebeten, aber es war schon spät. Keine Ahnung, was ich gemacht hab, irgendwas hat mich aufgehalten. Was immer es war, ich wollte nur noch nach Hause. Also hab ich zugesehen, wie sie am Eingang vorbeigegangen ist, und ich wollte schon wieder hierher zurück und den Laden zumachen, als sie auf dem Bürgersteig stehenblieb. Irgendwas stimmte nicht mit ihr, und ich hab ein oder zwei Minuten gebraucht, um dahinterzukommen, was es war. Sie hatte keinen Mantel an. Als ich sie vorher Vorbeigehen sah, da hatte sie noch diesen Mantel an, der mit dem
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