Tiefsee
blickte irritiert auf das durch ihren lose geknoteten Morgenrock entblößte Dekollete.
»Ein dringender Anruf für Sie vom Festland, Kongreßabgeordnete Smith«, meldete er mit stark slawischem Akzent. »Sie können ihn im Fernmelderaum entgegennehmen.
Sie dankte freundlich für die Auskunft und zog sich eilig an.
Eine andere Telefonistin führte sie zu einer Zelle, in die das Gespräch gelegt worden war. Sallys Stimme kam so klar aus dem Hörer, als stünde sie in der Zelle nebenan.
»Guten Morgen, Chefin«, sagte sie müde.
»Hast du Glück gehabt?«
»Morans Frau sagte mir, daß er mit Senator Marcus Larimer Angeln gefahren ist«, platzte Sally heraus, bevor Loren daran dachte, sie zu unterbrechen. »Sie hat behauptet, sie seien zu einem Ort namens Goose Lake gefahren, ein privates Gewässer zum Fischen für Politiker ein paar Meilen unterhalb vom Reservat des Marinekorps in Quantico. Ich sprang also in meinen Wagen und fuhr hin. Nachdem ich mich an einem Kerl vorbeigeschwindelt hatte, der das Tor bewachte, habe ich alle Häuschen, Bootshäuser und Anlegestege abgesucht. Kein Kongreßabgeordneter, kein Senator. Dann bin ich zurück ins Capitol. Ich rief drei von Morans Mitarbeitern an und weckte sie. Erwarte von seinem Büro keine Gefälligkeiten mehr. Sie bestätigten den Angelausflug. Als zusätzliche Absicherung versuchte ich es auch bei zwei Leuten von Larimers Stab. Die verzapften den gleichen Unsinn. In Wirklichkeit hat seit über einer Woche niemand die beiden mehr zu Gesicht bekommen.
Tut mir leid, daß ich dich enttäuschen muß, Chefin, aber für meine Begriffe sieht das nach einem Täuschungsmanöver aus.«
Loren bekam eine Gänsehaut. Konnte der zweite Mann, der grob aus dem Hubschrauber herausgeholt worden war, Marcus Larimer gewesen sein?
»Soll ich die Jagd fortsetzen?« fragte Sally.
»Ja, bitte.«
»Ich tue mein Bestes. Ach ja, beinahe hätte ich es vergessen.
Hast du die neuesten Nachrichten gehört?«
»Wie könnte ich das um zehn Uhr morgens auf einem Kahn mitten im Ozean?«
»Es betrifft deinen Freund Dirk Pitt.«
»Ist Dirk etwas zugestoßen?« stieß Loren erschrocken hervor.
»Unbekannte haben seinen Wagen in die Luft gesprengt. Zu seinem Glück saß er zu der Zeit nicht darin. Aber es war schon verdammt knapp. Nur einige Schritte davon entfernt blieb er stehen und wechselte ein paar Worte mit einem Freund. Laut Polizeibericht hätten sie seine Reste zwei Minuten später mit einem Besen wegkehren müssen.«
In Lorens Kopf gingen ihre Gedanken drunter und drüber und kamen ins Stocken. Es ging zu schnell, als daß sie die Nachricht verarbeiten konnte. Die unsinnigen Vorfälle zerfielen in ihrem Kopf in vielfarbige Stücke wie bei einer Bettdecke aus Stoffflicken. Die Säume platzten in alle Richtungen. Sie griff nach dem einzigen Faden, den sie vielleicht erwischen konnte.
»Sal, hör genau zu. Ruf Dirk an und sag ihm, ich brauche…«
Plötzlich durchfuhr ein schriller Summton ihr Trommelfell.
»Kannst du mich noch hören, Sal?«
Als einzige Antwort kam ein Störgeräusch. Sie drehte sich um, damit sie sich bei der Telefonistin beschweren konnte, aber die war fort. Statt dessen standen zwei Stewards dort, oder vielmehr zwei Ringer in Stewarduniformen, und der Erste Offizier. Er öffnete die Tür zu ihrer Zelle und verbeugte sich kurz.
»Wollen Sie bitte mit mir kommen, Abgeordnete Smith. Der Kapitän möchte mit Ihnen sprechen.«
47
Der Pilot setzte den Hubschrauber in einem kleinen Flughafen auf der Palmeninsel bei Charleston auf den Boden. Er hielt sich genau an den vorgeschriebenen Abstellvorgang, indem er den Motor mit niedriger Drehzahl laufen ließ, bis er sich abgekühlt hatte. Dann stieg er aus und band eines der Rotorblätter am Leitwerksträger fest.
Rücken und Arme schmerzten von dem langen Flug, und er machte Streckübungen, während er zu einem kleinen Büro beim Landestreifen ging. Er schloß die Tür auf und trat ein.
In dem kleinen Vorraum saß ein Fremder und las lässig eine Zeitung. Für den Piloten sah er entweder wie ein Chinese oder ein Japaner aus. Plötzlich senkte er die Zeitung und richtete eine Schrotflinte mit einem Pistolengriff und abgesägten Zwillingsläufen auf ihn, die kaum zehn Zentimeter hinter den Patronen zu Ende waren.
»Was wollen Sie von mir?« fragte der Pilot verblüfft.
»Informationen.«
»Da sind Sie am falschen Ort«, erklärte der Pilot und hob instinktiv die Hände. »Wir sind eine Hubschrauber-Ambulanz, keine
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