Tiefsee
Kreuz hielt, als wäre es ein Herrscherstab.
Rechts von ihm stand eine Staffelei mit einer Malerleinwand.
Das Bild war beinahe fertig.
Die Landschaft vor seinen Augen war in feinen Pinselstrichen ganz genau bis zu den gestielten Blättern der Bäume abgebildet.
Der einzige Unterschied, wenn man nah genug hinsah, war das steinerne Monument, denn statt des langen, wallenden Bartes eines vergessenen Heiligen stellte der Kopf das genaue Abbild des sowjetischen Präsidenten Georgij Antonow dar.
Plötzlich änderte sich der Schauplatz. Nun wurde er von vier Männern aus einer Hütte fortgeschleppt. In die Wände der Hütte waren gotische Muster geschnitzt, und es war grell blau bemalt.
Die Gesichter seiner Entführer waren nur undeutlich erkennbar, doch er konnte den Schweiß ihrer ungewaschenen Körper riechen. Sie zogen ihn zu einem Wagen. Er empfand keine Furcht, sondern eher blinde Wut, und trat mit den Füßen um sich. Seine Angreifer begannen ihn zu schlagen, aber der Schmerz war nur ein dumpfes Gefühl, als wäre die Tortur einem anderen zugedacht.
Im Eingang der Hütte erblickte er die Gestalt einer jungen Frau. Ihr blondes Haar war auf dem Kopf zu einem Knoten aufgesteckt, sie trug eine weiße Bluse und einen bäuerlichen Rock.
Mit erhobenen Armen schien sie zu flehen, doch er verstand ihre Worte nicht.
Dann wurde er hinten im Wagen auf den Boden geworfen, und die Tür schlug zu.
53
Der Zahlmeister betrachtete die beiden Touristen, die über die Einstiegsrampe heraufwankten, mit ausgesprochen belustigter Miene. Sie stellten ein ungewöhnliches Paar dar. Die Frau trug ein weites, bis zu den Knöcheln reichendes Strandkleid, und mit etwas Phantasie hätte der russische Zahlmeister sie für einen bunten ukrainischen Kartoffelsack halten können. Er konnte ihr Gesicht nicht genau erkennen, denn es war teilweise von einem breitrandigen Strohhut verdeckt, der mit einem Seidentuch unter dem Kinn festgehalten wurde, aber er nahm an, daß es bei vollkommen freiem Anblick ihm den Atem verschlagen hätte.
Der Mann, der offenbar ihr Ehemann war, war betrunken. Er taumelte auf das Deck, roch nach billigem Bourbon und lachte andauernd. Er trug ein grell geblümtes Hemd und eine weiße Leinenhose, warf lüsterne Blicke auf seine häßliche Frau und flüsterte ihr Dummheiten ins Ohr. Er bemerkte den Zahlmeister und hob den Arm zu einem komischen Gruß.
»Heiho, Kapitän«, rief er mit breitem Grinsen.
»Ich bin nicht der Kapitän. Mein Name ist Peter Kolodno. Ich bin der Zahlmeister. Womit kann ich Ihnen behilflich sein?«
»Ich bin Charlie Gruber, und das ist meine Frau Zelda. Wir haben hier in San Salvador Fahrkarten gelöst.«
Er reichte dem Zahlmeister einige Papiere, der sie sorgfältig einige Augenblicke lang studierte.»Willkommen an Bord der
Leonid Andrejew.«
Jetzt sprach der Zahlmeister in offiziellem Tonfall. »Es tut mir leid, daß wir unser übliches Begrüßungszeremoniell für neu an Bord gekommene Passagiere nicht veranstalten können, aber Sie sind ziemlich spät auf unserer Kreuzfahrt zu uns gestoßen.«
»Wir segelten auf einer Luxusjacht, als der blöde Steuermann das Schiff auf ein Riff auflaufen ließ«, schwatzte der Mann, der sich Gruber nannte. »Meine kleine Frau und ich waren verdammt nah daran zu ertrinken. Konnten doch nicht einfach so früh wieder nach Sioux Falls heimkehren. So beenden wir also unsere Ferien auf Ihrem Kahn. Außerdem schwärmt meine Frau für Griechen.«
»Das hier ist ein russisches Schiff«, stellte der Zahlmeister geduldig richtig.
»Wirklich?«
»Ja, Sir, der Heimathafen der
Leonid Andrejew
ist Sewastopol.«
»Was Sie nicht sagen. Wo liegt das denn?«
»Am Schwarzen Meer.« Der Zahlmeister behielt seine höfliche Haltung bei.
»Klingt nach Wasserverschmutzung.«
Der Zahlmeister konnte nicht begreifen, wie Amerika mit solchen Bürgern wie diesen jemals zur Supermacht werden konnte. Er überprüfte seine Passagierliste, dann nickte er. »Ihre Kabine ist Nummer 34 auf dem Gorki-Deck. Ich werde Ihnen von einem Steward den Weg zeigen lassen.«
»Du bist in Ordnung, Kumpel.« Gruber schüttelte ihm die Hand.
Während der Steward die Grubers zu ihrer Kabine führte, warf der Zahlmeister einen Blick auf seine Hand. Charlie Gruber hatte ihm ein mickriges Trinkgeld gegeben.
Sobald der Steward ihr Gepäck abgestellt und die Tür geschlossen hatte, nahm Giordino seine Perücke ab und rieb sich den Lippenstift vom Mund. »O Gott, Zelda Gruber, wie werde ich das
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