Tiefsee
während er las.
»Ja, er und mehrere Mitglieder seines Stabes bei der Weltgesundheitsorganisation sind verschwunden.«
Emmett blickte auf. »Wir haben ihre Spur verloren?«
Miller nickte. »Unsere Überwachungsbeamten bei den Vereinten Nationen berichten, daß die Russen das Gebäude am Freitagabend verlassen haben…«
»Wir haben jetzt Sonnabend morgen«, unterbrach ihn Emmett.
»Sie sprechen also von einem Zeitraum von nur wenigen Stunden. Was ist daran so verdächtig?«
»Sie haben sich sehr bemüht, unsere Beschatter abzuschütteln.
Der für das New Yorker Büro verantwortliche Spezialagent hat nachgeforscht und festgestellt, daß keiner der Russen in seine Wohnung oder sein Hotel zurückgekehrt ist. Sie sind allesamt verschwunden.«
»Haben wir irgendwelches Material über Lugowoj?«
»Alle Anzeichen weisen darauf hin, daß er in Ordnung ist. Er scheint sich von den KGB-Agenten der sowjetischen Botschaft fernzuhalten.«
»Und sein Stab?«
»Auch von ihnen wurde keiner bei einer Spionagetätigkeit beobachtet.«
Emmett sah eine Weile nachdenklich vor sich hin.
Normalerweise hätte er den Bericht beiseite geschoben oder höchstens eine Routineuntersuchung angeordnet. Aber er empfand einen bohrenden Zweifel. Das Verschwinden des Präsidenten und Lugowojs in der gleichen Nacht konnte natürlich auch Zufall sein.
Schließlich sagte er: »Ich möchte gerne Ihre Meinung dazu hören, Don.«
»Es ist schwierig, eine Vermutung zu äußern«, antwortete Miller. »Vielleicht tauchen sie alle am Montag wieder bei den Vereinten Nationen auf, als wäre nichts geschehen. Andererseits liegt die Vermutung nahe, daß das auffallend korrekte Image, das Lugowoj und sein Stab zur Schau trugen, Deckmantel sein könnte.«
»Zu welchem Zweck?«
Emmett zuckte mit den Schultern. »Ich habe keinen Hinweis.«
Emmett klappte die Akte zu. »Lassen Sie es vom New Yorker Büro weiter verfolgen. Ich möchte mit dem Vermerk ›dringend‹ die neuesten Berichte erhalten, wann immer sie greifbar sind.«
»Je mehr ich darüber nachdenke«, sagte Miller, »desto seltsamer kommt es mir vor.«
»Wieso?«
»Welche wichtigen Geheimnisse könnte eine Gruppe sowjetischer Psychologen stehlen wollen?«
19
Erfolgreiche Magnaten aus der Schiffahrtsbranche reisen in aufwendigem Stil durch die glitzernden Wogen des internationalen Jetsets. Von exotischen Jachten zu Privatflugzeugen, von prächtigen Villen zu exklusiven Hotelsuiten durchziehen sie die Welt in einer nicht endenden Kreuzfahrt, um weiterhin Macht und Reichtum anzusammeln.
Min Korjo Bougainville hatte für solch einen freizügigen Lebensstil nichts übrig. Sie verbrachte ihre wachen Stunden in ihrem Büro und die Nächte in einer kleinen, aber eleganten Wohnung im Stock darüber. Sie war in den meisten Belangen des Lebens äußerst genügsam, und ihre einzige Schwäche bestand in einer Vorliebe für chinesische Antiquitäten.
Als sie zwölf war, verkaufte sie ihr Vater an einen Franzosen, der eine kleine Reederei betrieb; sie bestand aus drei Frachtdampfern, die die Küstenhäfen zwischen Pusan und Hongkong abfuhren. Die Linie florierte, und Min Korjo gebar René Bougainville drei Söhne.
Dann kam der Krieg, und die Japaner überrannten China und Korea. René kam bei einem Bombenangriff ums Leben, und seine drei Söhne fielen irgendwo im Südpazifik, nachdem sie gezwungen worden waren, in die Kaiserliche Japanische Armee einzutreten. Nur Min Korjo und ein Enkel, Lee Tong, hatten überlebt.
Nach der Kapitulation Japans gelang es ihr, eines der Schiffe ihres Mannes, das im Hafen von Pusan gesunken war, bergen zu lassen und einzusetzen. Langsam baute sie die Bougainville-Flotte wieder auf, indem sie alte ausgediente Frachter kaufte, für die sie nie mehr als den Schrottwert bezahlte. Gewinn fiel dabei nur selten ab, doch sie hielt durch, bis Lee Tong an der Wirtschaftsfakultät der Wharton-Universität von Pennsylvanien seinen Magister machte und begann, die laufenden Geschäfte zu übernehmen. Dann wuchs die Reederei Bougainville wie durch ein Wunder plötzlich wie gedüngtes Unkraut, und Lee Tong verlegte das Hauptbüro nach New York. In einem Ritual, das schon dreißig Jahre bestand, saß er abends pflichtgetreu neben ihrem Bett und besprach mit ihr die laufenden Transaktionen ihres ausgedehnten Finanzimperiums. Lee Tong hatte das irreführende Aussehen eines freundlichen, asiatischen, Bauern.
Sein rundes, braunes Gesicht, das wie aus Elfenbein geschnitzt wirkte, zeigte
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