Tiepolos Fehler: Kommissar Kilians erster Fall
Eigentlich blieb nur die letzte Vermutung übrig. Der Stich in den Hals musste es gewesen sein.
Als Kilian die Akte weiter durchblätterte, fiel ihm der Bericht des Münchner LKAs in die Hände. In dem Untersuchungsbericht ging es um die stoffliche Untersuchung des Hemdes, das der Wachmann an dem Abend getragen hatte. Und die Kollegen hatten etwas gefunden. Auf dem Träger, der ihnen vom Erkennungsdienst übersandt worden war, fand man Pigmente und Fasern eines Baumwollstoffes. Die Fasern gehörten nicht zum Hemd, waren also von außen dazugekommen. Sie waren weiß, in der Struktur nahezu unverbraucht. Das Hemd des Wachmanns hingegen war schwarz und ausgewaschen. Woher kamen also die Fasern und die Pigmente? Vom Sturz? Mehr noch, die Fasern waren mit Pigmenten versetzt. Da eine gewöhnliche Hausfrau nicht mit derlei Materialien umging, konnten sie nur aus der Residenz stammen. Das hieß, dass der Wachmann vor seinem Sturz mit Farbe in Berührung gekommen sein musste. Das war nicht außergewöhnlich, in der Residenz wurde restauriert.
Kilian raufte sich die Haare. Er hatte eine Leiche, ein paar Spuren, die im Nichts zu verlaufen schienen, einen Hinweis auf die Mordwaffe, aber diese selbst hatte er nicht. Folglich musste er sich wieder auf die Mordwaffe konzentrieren. Fände er sie, hätte er den Mörder. Er nahm sich erneut die Liste mit den Namen vor. Hatte Korrassow wirklich alle Namen aufgelistet, oder fehlte noch einer? Er hätte gerne Korrassow darauf angesprochen. Aber der lief sich wahrscheinlich gerade die Hacken nach Galina in Genua ab. Stimmt, da war ja auch noch Galina. Er hatte nichts mehr von ihr gehört. Auch Schröder meldete sich nicht. Alles schien also nach Plan zu laufen. Galina war bestimmt untergetaucht und wartete, bis sich der Trubel um sie gelegt hatte. In der Zwischenzeit konnte Kilian seine Spuren verwischen und für die nächsten Jahre aus der Schusslinie und vielleicht auch aus ihrem Bewusstsein verschwinden. Doch das sah ihr nicht ähnlich. Galina stand in dem Ruf, nichts und niemanden zu vergessen.
Das Telefon klingelte und unterbrach seine Gedanken.
»Kilian«, sagte er und wartete auf die Antwort.
»Hier ist deine Mutter«, kam es zurück.
Kilian schluckte. Mein Gott, sie hatte er ganz vergessen. Wie kam sie an seine Nummer? »Hallo, Mama«, sagte er in den Hörer. »Wie geht es dir?«
»Gut, mein Sohn. Allerdings haben wir dich gestern Abend vermisst. Dein Kollege, der Herr Heinlein, kam vorbei und hat dich entschuldigt.«
»Es gibt viel zu tun. Ich habe hier einen Fall, den ich eigentlich schon hätte aufklären müssen, aber …«
»Ich verstehe«, unterbrach sie ihn. »Doch irgendwie habe ich das Gefühl, dass du mir aus dem Weg gehst. Wir sollten darüber sprechen. Lass uns doch heute Abend treffen.«
Spätestens am Wochenende könnte er wieder weg sein, und jetzt sollte er sich noch mit ihr treffen? Womöglich noch alleine, unter vier Augen?
»Schlecht, Mama. Ich stehe hier wirklich unter Strom, und mein Chef will Ergebnisse sehen. Ich weiß nicht, wann wir das machen können.«
Sie antwortete nicht sofort. Er spürte, dass sie wusste, dass es eine Ausrede war. Die Pause dauerte lange. Für beide quälend lange.
Heinlein kam zur Tür herein. Das war die Rettung. Kilian reagierte sofort.
»Da kommt gerade mein Chef. Ich muss auflegen. Lass uns doch später nochmal reden«, sagte Kilian, ohne eine Antwort abzuwarten, und legte auf.
»Chef?«, fragte Heinlein erstaunt. »Was ist passiert?«
»Nichts. Vergiss es.« Er nahm sich erneut die Liste mit den Namen vor.
»Jetzt mal im Ernst«, begann Heinlein. »Wieso Chef? Wer war das gerade am Telefon?«
Kilian hatte nicht die geringste Lust, mit Heinlein über den Anruf zu sprechen, und überging die Frage.
»Was gibt’s Neues bei dir?«, fragte er ihn stattdessen.
»Weich nicht aus«, entgegnete Heinlein. »War das deine Mutter? Nicht dass ich irgendein Dankeschön erwarte und auch nicht, dass du einfach mal nachfragst, ob ich gestern Abend im Stachel war und deiner Mutter erklärt habe, dass ihr Sohn sie nicht sehen konnte oder, unter uns, nicht sehen wollte. Aber ich fände es trotzdem nicht schlecht, wenn du mir mal erklären würdest, worum es hier und insbesondere zwischen euch beiden geht?«
»Hör zu, Schorsch«, antwortete Kilian, »danke, dass du gestern für mich im Stachel warst. Okay? Aber alles andere geht dich nichts an und gehört nicht hierher.«
»Gut«, antworte Heinlein trocken, »wenn du meinst,
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