Tiepolos Fehler: Kommissar Kilians erster Fall
Muskel- und
Gesichtshälften.«
Heinlein, Pia und Stephan zeigte sich ein Unterkiefer, der, von der Seite betrachtet, eine Schieflage aufwies. Stephan ließ den Schädel rotieren, sodass man ihn aus verschiedenen Perspektiven sehen konnte. Heinlein war begeistert.
»Das ist ja hammerhart«, sagte er. Ungeduldig forderte er Stephan auf, noch mehr Daten und Komponenten einzuspielen, damit er ein Fahndungsfoto mitnehmen konnte.
»Nicht so schnell mit den jungen Hasen«, verneinte Stephan.
»Das ist erst der Anfang. Wenn ich weitere Spuren eingespielt habe, dann kann ich dir mehr zeigen. Okay?«
»Okay«, wiederholte Heinlein gebannt vor dem Bildschirm.
*
Kilian kam gut gelaunt ins Kommissariat zurück. Giovanna und er hatten am Sternplatz einen Espresso und zur Feier des Tages einen Prosecco getrunken. Sie hatte ihm von ihren Plänen erzählt, dass sie nach Abschluss der Arbeiten in der Residenz nach Barcelona zu Don Enrique fliegen wolle. Wenn Kilian Lust und Zeit hätte, sollte er sie begleiten. Don Enrique besitze Verbindungen, und zwar nicht nur in die Politik, sondern auch zur Verwaltung. Er könnte bestimmt etwas für Kilian erwirken, was Würzburg anginge. Und sollten alle Stricke reißen, gebe es ja auch noch die privaten Dienste, die in diesen Kreisen immer stärker nachgefragt würden. Das würde dann schon weit über Personenschutz hinausgehen und erstrecke sich bis hinein ins Sicherheitsmanagement großer Unternehmen. Woher Giovanna das alles wusste, wollte Kilian von ihr erfahren. Sie erzählte ihm von den Geschäften ihres Vaters, des Conte, und wie er von Venedig, Mailand und Rom aus seine Geschäfte tätigte.
Kilian dachte während seines Fußmarsches ins Kommissariat darüber nach. Der Gedanke reizte ihn. Endlich könnte er aus dem Muff engstirniger Polizeiarbeit ausbrechen und seine Fähigkeiten in den Dienst sicherheitstechnischer Überlegungen großer Unternehmen stellen. Giovanna würde ihm eine Tür öffnen, die bisher für ihn verschlossen gewesen war.
Kilian ging an Sabine vorbei, direkt an seinen Schreibtisch, ohne ihr große Aufmerksamkeit zu schenken. Er überhörte ihren Hinweis, dass er, Heinlein und der Augenzeuge nach dem Mittagessen bei Oberhammer antreten sollten.
Für ihn war jetzt nur noch eins wichtig, und das hieß, den Mordfall in der Residenz schnell zum Abschluss bringen, damit er sich von Oberhammer und von Würzburg verabschieden konnte.
Er nahm sich die Liste, die ihm Korrassow gegeben hatte, nochmal vor und ging jeden einzelnen Namen und dessen Alibi durch. Heinlein und Schneider hatten sauber gearbeitet. Jede Aussage war gegengeprüft, und es sah alles danach aus, dass keiner von der Liste den Mord begangen haben konnte. Die meisten waren zur Tatzeit viele tausend Kilometer weg, andere bereits gestorben, oder ihr Alibi war bombensicher. Der Einzige, der im Entferntesten für eine erneute Überprüfung hätte infrage kommen können, war Ronald Furtwanger, Giovannas Cousin. Aber der war laut Giovanna und dem Kellner zur Tatzeit im Brazil.
Auf der anderen Seite: Vielleicht war er mit seinen Ermittlungen auch auf einer völlig falschen Spur. Hatte er etwas übersehen, gab es einen Hinweis, dem er noch nicht nachgegangen war? Im Umfeld des Wachmanns gab es keinen Anhaltspunkt. Nichts wies darauf hin, dass es einen Grund gegeben hatte, wieso er hatte sterben müssen. Blieb also die alte These: zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Der Ort konnte nicht falsch sein, der Wachmann arbeitete schließlich dort. Blieb noch der falsche Zeitpunkt. Der Wachmann hatte zur Tatzeit nichts in der Residenz zu suchen gehabt. Er musste
also auf jemanden getroffen sein, der sich gestört fühlte. Da es keine Kampfspuren gab, mussten sich Täter und Opfer entweder gekannt haben, oder das Opfer war überrascht worden. Er nahm sich Pias Untersuchungsprotokoll der Leiche und des Blutes nochmals vor. Dort stand, dass das Opfer nicht an der Halswunde verstorben war, sondern an der Folge eines Sturzes, der ihm eine Baulatte quer durch den Brustkorb getrieben hatte, und am Bruch des Halswirbels.
Pia wies in ihrem Bluttest darauf hin, dass sich in der Probe mehr Adrenalin befand als gewöhnlich. Nicht viel. Doch es reichte aus, um sagen zu können, dass es zu viel war. Stammte es von der vermeintlichen Eile, die den Wachmann vom Abendtisch zur Residenz getrieben hatte, damit er etwas tun konnte, was er offensichtlich vergessen hatte, oder war noch etwas passiert, bevor er stürzte?
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