Tierarzt
sei er blind.«
»Blind!« Handelte es sich vielleicht um eine ungewöhnliche Form von Bleivergiftung? Ich eilte in den Stall und warf als erstes einen Blick auf die Wände ringsum, entdeckte aber nirgends eine Spur von Farbe, und außerdem war Monty ja auch schon seit vielen Wochen in diesem Stall.
Und als ich ihn mir ansah, stellte ich fest, daß er auch nicht direkt blind war: Sein Blick war starr und leicht nach oben gerichtet, und er tappte stumpf im Verschlag umher, blinzelte aber, als ich mit der Hand vor seinem Gesicht hin und her wedelte. Um meine Verwirrung komplett zu machen, war sein Gang hölzern und steifbeinig, so wie man es von mechanischem Spielzeug kennt. Tausend Diagnosen schossen mir durch den Kopf: Starrkrampf, nein – Meningitis – nein, nichts dergleichen. Ich gebe mir im allgemeinen Mühe, eine ruhige, professionelle Haltung zu wahren, aber jetzt mußte ich mich richtig zusammennehmen, um nicht ratlos mit den Schultern zu zucken.
Ich verabschiedete mich so bald wie möglich von Harry Sumner und versuchte auf der Rückfahrt in aller Ruhe über den Fall nachzudenken. Gewiß, ich hatte damals noch nicht sehr viel Erfahrung, aber ich kannte mich in Pathologie und Physiologie aus, und wenn ich einmal nicht weiterwußte, gelang es mir durch rationales Denken doch meistens, hinter die Sache zu kommen. Aber hier...
Am Abend holte ich sämtliche Bücher, Kolleghefte und alte Nummern des Veterinary Record hervor und suchte, was ich über das Thema Krankheiten bei Jungrindern finden konnte. Aber die großen Nachschlagewerke gaben nichts her, und ich wollte schon alle Hoffnung begraben, da stieß ich in einer kleinen Broschüre auf den Passus: »Eigenartig gestelzter Gang, starrer Blick, vorwiegend nach oben, gelegentliche Atemgeräusche, verbunden mit hohem Fieber.« Die Worte sprangen mir förmlich in die Augen, und es war, als ob der unbekannte Autor mir auf die Schulter klopfe und beruhigend murmelte: »Hier hast du’s. Klar und eindeutig.«
Ich griff zum Telefon und rief Harry Sumner an. »Harry, ist Ihnen aufgefallen, daß Monty und die anderen Kälber im Verschlag sich gegenseitig lecken?«
»Ja, immerzu. Scheint eine besondere Vorliebe von ihnen zu sein. Warum?«
»Ich glaube, ich weiß inzwischen, was los ist. Er hat einen Bezoar, einen Haarballen.«
»Einen Haarballen? Wo?«
»Im Labmagen. Daher rühren all diese seltsamen Symptome.«
»Großer Gott, so was! Und nun?«
»Wahrscheinlich müssen wir ihn operieren, aber ich will es zunächst einmal mit Paraffinöl versuchen. Ich stelle Ihnen eine Halbliterflasche vor die Tür. Davon geben Sie ihm gleich einen Viertelliter und den Rest morgen in aller Frühe. Vielleicht schwemmt das Öl das Ding heraus. Ich schaue im Lauf des Vormittags vorbei.«
Ich versprach mir nicht allzuviel von dem Paraffinöl und hatte es im Grunde nur deshalb vorgeschlagen, um irgend etwas zu tun, während ich nervös mit dem Gedanken an eine Operation spielte. Und am Morgen war das Bild denn auch wie erwartet: steif wie ein Sägebock stand Monty da und starrte noch immer ausdruckslos vor sich hin. Ein öliger Schimmer an Rektum und Schwanz ließ erkennen, daß das Paraffin an dem Hindernis vorbeigeglitten war.
»Er hat jetzt seit drei Tagen keinen Bissen zu sich genommen«, sagte Harry. »Ich glaube nicht, daß er’s noch lange machen wird.«
Ich wendete den Blick ab von Harrys besorgtem Gesicht und sah das kleine Tier an, das zitternd in seinem Verschlag stand. »Sie haben recht. Wir müssen die Operation sofort vornehmen; das ist die einzige Hoffnung, ihn zu retten. Sind Sie einverstanden?«
»Ja natürlich – je eher, desto besser.« Er lächelte mir zu. Es war ein vertrauensvolles Lächeln, und mir krampfte sich das Herz zusammen. In jener Zeit steckte die Bauchchirurgie bei Rindern noch in den Kinderschuhen. Es gab zwar ein paar operative Eingriffe, die wir mit ziemlicher Regelmäßigkeit vornahmen, aber die Entfernung eines Bezoars gehörte nicht dazu, und alles was ich darüber wußte, beschränkte sich auf die Lektüre einiger weniger kleingedruckter Absätze in den Lehrbüchern.
Aber dieser junge Bauer hatte Vertrauen zu mir. Er hielt mich für fähig, die Sache durchzuführen, und ich durfte ihm daher auf keinen Fall meine Zweifel zeigen. In Augenblicken wie diesen beneidete ich meine Kollegen von der Humanmedizin, die in einem solchen Fall ihren Patienten nur eiligst ins Krankenhaus zu schicken brauchten, während ein Tierarzt an Ort und
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