Tierarzt
aber einen ausgewachsenen Bullen kann ich mir nicht leisten. Und eine andere Möglichkeit, zu Newtons zu kommen, sah ich nicht.«
Harry war ein aufgeweckter Bursche. Er hatte von seinem Vater einen kleinen Hof von etwa 100 Morgen geerbt, den er zusammen mit seiner jungen Frau bewirtschaftete. Er war Anfang Zwanzig, und als ich ihn kennenlernte, hatten das blasse Gesicht, die großen, sensiblen Augen und die schmächtige Gestalt mich zu der Annahme verleitet, er werde der Aufgabe wohl kaum gewachsen sein. So jemand schien nicht dazu geschaffen, sieben Tage in der Woche das Vieh zu füttern und zu melken und die Ställe auszumisten, wie es bei einem milchwirtschaftlichen Betrieb nun einmal unerläßlich war.
Aber ich hatte mich geirrt. Wenn es sein mußte, packte er furchtlos das Hinterbein einer ausschlagenden Kuh und hielt es fest, damit ich den Huf untersuchen konnte. Er arbeitete mit unermüdlichem Fleiß, und ich konnte verstehen, daß die Suche nach einem guten Bullen ihn bis nach Südschottland getrieben hatte.
Harry hatte eine Herde von Ayrshire-Rindern – recht ungewohnt in den Dales, wo es fast ausschließlich Shorthorns gab –, und eine Spritze von dem berühmten Newton-Blut war zweifellos eine sichere Methode, seinen Bestand zu verbessern.
»Er stammt sowohl väterlicher- als auch mütterlicherseits von Preisträgern ab und hat einen erstklassigen Stammbaum«, sagte der junge Bauer stolz. »Der vollständige Name lautet: Newton Montmorency der Sechste – kurz Monty genannt.«
Als wüßte das Tier, wie es hieß, hob es den Kopf und sah uns an. Es hatte ein komisches kleines Gesicht: glänzende dunkle Augen, eine feuchte Nase und das Maul mit Milch verschmiert. Ich beugte mich hinunter, streichelte den harten, kleinen Schädel und fühlte unter meinen Fingern die Ansätze der Hörner, die noch kaum erbsengroß waren. Mit unerschrockenem Blick ließ Monty die Liebkosung eine Weile gelassen über sich ergehen, dann senkte er den Kopf wieder in den Eimer.
Ich kam in der nächsten Zeit häufiger auf Harry Sumners Hof und warf dabei eigentlich jedesmal einen Blick auf seinen teuren Kauf. Und es dauerte nicht lange, da konnte man sehen, weshalb das Kälbchen hundert Pfund gekostet hatte. Es war zusammen mit drei anderen Jungtieren in einem Verschlag, doch seine Überlegenheit war auf Anhieb zu erkennen: die breite Stirn und die weit auseinanderstehenden Augen; die gewölbte Brust und die kurzen, geraden Beine; die herrlich ebenmäßige Linie des Rückens vom Widerrist bis zur Schwanzwurzel. Monty war große Klasse; aus ihm würde einmal ein trefflicher Bulle werden – das sah man schon jetzt.
Er war ungefähr drei Monate alt, da rief Harry mich eines Tages an und sagte, er glaube, das Tier habe Lungenentzündung. Ich war überrascht, denn das Wetter war sonnig und warm und Monty im Stall keiner Zugluft ausgesetzt. Doch als ich ihn sah, dachte ich zunächst auch, Harry habe mit seiner Diagnose recht. Die Atemnot, das hohe Fieber von über 40 Grad – die Sache sah ziemlich eindeutig aus. Als ich jedoch das Stethoskop ansetzte und auf die Lungengeräusche horchte, hörte ich nichts. Die Lungen waren völlig frei. Kein Pfeifen, kein rasselndes Geräusch, nichts, was auf krankhafte Veränderungen der Lunge hindeutete.
Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Schließlich wandte ich mich dem Bauern zu. »Die Sache ist äußerst sonderbar, Harry. Das Tier ist zweifellos krank, aber die Symptome ergeben kein geschlossenes Krankheitsbild.«
Damit verstieß ich gegen eine Grundregel meines Berufes, denn ganz zu Anfang meines Studiums hatte mir der erste Tierarzt, bei dem ich ein Praktikum absolvierte, den Rat gegeben: »Wenn Sie einmal nicht wissen, was einem Tier fehlt, lassen Sie es sich um Himmels willen nicht anmerken. Geben Sie der Sache irgendeinen Namen – einen möglichst klangvollen, und damit Schluß.« Aber mir fiel nichts ein. Ich blickte auf das schwer atmende kleine Geschöpf, das mich ängstlich ansah.
Die Symptome behandeln. Ja, das konnte ich. Das Tier hatte Fieber, also mußte ich als erstes versuchen, die Temperatur herunterzutreiben. Ich gab ihm eine Fieberspritze und verordnete einen ›Fiebertrank‹ aus gesüßtem Salpetergeist. Doch leider stellte sich nach drei Tagen heraus, daß die altbewährten Mittel keinerlei Wirkung ausübten.
Als ich am vierten Tag morgens auf den Hof fuhr, kam Harry Sumner mir entgegen und berichtete: »Monty geht heute ganz komisch, Mr. Herriot – so als
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