Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition)
statistischen Dingen, sprach weiter: »Da es sich ausschließlich um junge Männer im Alter etwa zwischen sechzehn und fünfundzwanzig handelte, bedeutet diese Zahl noch sehr viel mehr. In der Folge musste sich daraus eine Entvölkerung des Veneto ergeben.« Nach kurzer Überlegung fügte er hinzu: »Und genau dazu ist es gekommen.« Er erinnerte sich an die Gespräche seiner Großmutter väterlicherseits mit ihren Freundinnen, die er als Kind mit angehört hatte; da war oft die Rede davon gewesen, was für ein Glück sie gehabt hätten, einen Mann abzubekommen – ganz gleich, ob einen guten oder einen schlechten Mann –, wo so viele ihrer Freundinnen überhaupt keinen gefunden hatten. Und er dachte an die Kriegerdenkmäler bei Asiago und Meran, mit den Namen der »Helden der Nation«, oftmals lange Listen von Männern mit demselben Nachnamen, alle gestorben in Schnee und Schlamm, ihr Leben weggeworfen für einen Meter unfruchtbaren Landes oder einen Orden an der Brust eines Generals.
»Cadorna«, sagte er; so hieß der Oberbefehlshaber dieses irrwitzigen Feldzugs.
»Uns hat man erzählt, er sei ein Held gewesen«, sagte Raffi.
Brunetti schloss kurz die Augen.
»Jedenfalls hat man uns das auf dem liceo erzählt: dass er den Angriff der österreichischen Invasoren zurückgeschlagen hat.«
Brunetti konnte sich nur mit Mühe die Frage verkneifen, ob dieselben Lehrer auch die tapferen italienischen Soldaten rühmten, die eine Invasion der Äthiopier oder Libyer vereitelt hätten. Er begnügte sich mit der Feststellung: »Italien hat Österreich den Krieg erklärt.«
»Warum?«, wollte Raffi wissen; er schien das nicht glauben zu können.
»Warum Länder anderen Ländern Krieg erklären?«, fragte Paola. »Um Land zu erobern, um sich Rohstoffe zu sichern, um ihre Macht zu behaupten.« Brunetti fragte sich, warum Eltern eigentlich so ein Aufhebens davon machten, wenn es um die Mechanismen des Geschlechtlichen ging. War es nicht viel gefährlicher, über die Mechanismen der Macht aufzuklären?
Er mischte sich ein. »Du sprichst von Angriffskriegen, nehme ich an. Polen im letzten Krieg war ein anderer Fall.«
»Ja, sicher«, stimmte sie zu. »Auch Belgien, Holland oder Frankreich. Die wurden überfallen und haben sich gewehrt.« Sie sah die Kinder an. »Und euer Vater hat recht: Wir haben Österreich den Krieg erklärt.«
»Aber warum?«, bohrte Raffi weiter.
»Nach dem, was ich darüber gelesen habe, wollte man Land zurückerobern, das die Österreicher sich in der Vergangenheit angeeignet hatten oder das man ihnen übertragen hatte«, antwortete Paola.
»Aber wie weiß man denn, wem es gehört?«, fragte Chiara.
Als Paola sah, dass alle aufgegessen hatten – Raffi hatte eine winzige Gesprächspause genutzt, seine Portion zu verputzen –, hob sie die Hand wie der Schiedsrichter, der ein Fußballspiel unterbricht. »Ich möchte euch alle um Nachsicht bitten«, sagte sie und sah ihnen nacheinander in die Augen. »Ich habe meinen Vormittag mit dem offenbar sinnlosen Versuch zugebracht, die Idee zu verteidigen, dass manche Bücher besser sind als andere, und eine zweite ernste Debatte kann ich nicht ertragen, schon gar nicht an diesem Tisch, erst recht nicht beim Mittagessen. Können wir nicht über irgendwas Blödsinniges reden, wie Fettabsaugen oder Breakdance?«
Raffi wollte protestieren, aber Paola kam ihm zuvor: »Als Nächstes gibt es calamari in umido mit Erbsen – und überbackenen Fenchel für Chiara – und als Dessert eine crostata di fragole, aber das alles nur für die, die sich meinem Willen unterwerfen.«
Dies brachte Raffi zur Besinnung. Seine Mutter machte immer mehr Fenchel, als eine Person essen konnte, und jetzt war Hauptsaison für Erdbeeren. »Meine einzige Freude im Leben«, sagte er, indem er seinen Teller nahm und aufstand, um ihn zur Spüle zu bringen, »besteht darin, mich bedingungslos dem Willen meiner Eltern zu fügen.«
Paola sah Brunetti an. »Guido, du liest doch alles über diese Römer: Hatten die nicht eine Göttin, die eine Schlange geboren hat?«
»Nicht dass ich wüsste.«
»Dann haben sie das also uns Menschen überlassen.«
10
Brunetti erreichte an diesem Nachmittag in der Questura so wenig, dass er ebenso gut hätte zu Hause bleiben können. Um vier erfuhr er, dass Foa abkommandiert war, um den Questore und eine Parlamentariergruppe zu einer Besichtigung des Mose-Projekts – jenes kostspieligen Bauwerks, das die Stadt eines Tages vor acqua alta schützen
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