Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition)
wäre die Chance dafür jedenfalls kleiner.«
Vianello starrte durchs Fenster der Bar, die Augen auf die Passanten gerichtet, aber ganz auf den möglichen Tathergang konzentriert. Nach einer Weile drehte er sich wieder zu Brunetti um. »Ja, ein Haus klingt am wahrscheinlichsten. Lässt sich das schon eingrenzen?«
»Ich habe noch nicht mit Foa gesprochen«, sagte Brunetti und nahm sich vor, das baldmöglichst nachzuholen. »Die Leiche wurde gegen sechs Uhr hinter dem Giustinian entdeckt, im Rio del Malpaga. Foa müsste ausrechnen können, von wo er dorthin getrieben ist.«
Vianello schloss die Augen, und Brunetti sah ihn genau das tun, was er auch schon getan hatte: Der Ispettore rief den jahrzehntealten Stadtplan vor seinem inneren Auge auf und schweifte durch die Umgebung des Giustinian, ging die einzelnen Kanäle durch und rief sich so gut wie möglich deren jeweilige Strömungsrichtung ins Gedächtnis. Er schlug die Augen wieder auf und sah Brunetti an. »Wir wissen nicht, in welche Richtung die Flut geströmt ist.«
»Deswegen muss ich mit Foa sprechen.«
»Gut. Der wird es wissen«, sagte Vianello und stemmte sich vom Tisch hoch. Er ging an die Bar und zahlte, wartete auf Brunetti, und dann gingen sie zur Questura zurück, wobei sie das Wasser im Kanal zu ihrer Rechten beobachteten und immer noch überlegten, in welcher Richtung die Gezeiten geströmt sein mochten, als der Tote in den Kanal geworfen wurde.
9
Kurz nach eins traf Brunetti in der Questura ein; wenn er jetzt kehrtmachte, konnte er noch rechtzeitig zum Essen zu Hause sein. Vom vielen Koffein und Zucker noch unruhiger, verfolgten ihn seine Gedanken: Warum nur hatte er zwei Teilchen gegessen, wo er doch wusste, dass er zu Hause erwartet wurde? Wie ein kleiner Junge, der den Verlockungen von Süßigkeiten nicht widerstehen konnte.
Er sagte zu Vianello: »Ich gehe jetzt essen. Danach spreche ich mit Foa.«
»Der kommt nicht vor vier. Also jede Menge Zeit.«
Die beiden Brioches lagen ihm im Magen, und er beschloss, zu Fuß zu gehen, überlegte es sich aber plötzlich anders und machte einen Schwenk zur Riva degli Schiavoni, wo er das Vaporetto nehmen konnte.
Schon nach fünf Minuten bereute er seinen Entschluss. Statt in aller Ruhe und unbedrängt über den Campo Santa Maria Formosa und den Campo Santa Marina zu schlendern und erst dann auf das unvermeidliche Gewühl des Rialto zu treffen, geriet er von Anfang an mitten in den Touristenstrom. Als er nach rechts auf die riva einbog, sah er die Flut der Menschenmassen auf sich zuströmen, freilich viel langsamer, als Meereswogen es zu tun pflegen.
Wie jeder vernünftige Mensch flüchtete er sich zur Vaporetto-Haltestelle und stieg auf die Eins; drinnen fand er linker Hand ein freies Plätzchen, von wo er etwas ungestörter die Schönheiten der Stadt genießen konnte. Die Sonne gleißte auf der glatten Oberfläche des bacino und zwang ihn, die Augen zusammenzukneifen, während sie an der frisch renovierten Dogana und Santa Maria della Salute entlangfuhren. In der Dogana war er kürzlich gewesen, begeistert, wie gut sie restauriert war, entsetzt von dem, was im Innern ausgestellt wurde.
Wann hatte man angefangen, heimlich die Regeln abzuschaffen?, fragte er sich. Wann wurde aus grellbuntem Zeug Kunst, und wer war befugt, das zu verkünden? Was war am Banalen so interessant für die Leute, und wohin, ach wohin nur war schlichte Schönheit verschwunden? »Du bist ein alter Knacker, Guido«, flüsterte er vor sich hin, worauf der Mann vor ihm sich perplex zu ihm umdrehte. Brunetti ignorierte ihn und wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Gebäuden zu seiner Linken zu.
Sie kamen an einem Palazzo vorbei, in dem ein Freund ihm vor sechs Jahren eine Wohnung zum Kauf angeboten und ihm versichert hatte, er werde damit ein Vermögen machen: »Behalte sie einfach drei Jahre, und dann verkauf sie an einen Ausländer. Das bringt dir eine Million.«
Brunetti mit seinen einfachen Vorstellungen von Gut und Böse hatte das Angebot abgelehnt, weil ihm nicht wohl dabei war, aus Spekulation Profit zu schlagen; außerdem scheute er sich davor, jemandem zu Dank verpflichtet zu sein, der ihm einfach so zu einer Million Euro verholfen hätte. Oder auch nur zu zehn Euro.
Sie kamen an der Universität vorbei, und Brunetti schaute mit doppeltem Wohlgefallen hin: Dort arbeitete seine Frau, und jetzt studierte dort auch sein Sohn. Raffi hatte sich zu Brunettis Freude entschlossen, Geschichte zu studieren, nicht die
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