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Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition)

Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition)

Titel: Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donna Leon
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Herrschaftsfamilie weiterlas, erst einmal eine Pause und tat, was er in solchen Fällen häufig tat: Er griff nach Marc Aurel, seinen Selbstbetrachtungen, und schlug das Buch, wie fromme Christen es angeblich mit der Bibel machen, an irgendeiner beliebigen Stelle auf. Im Grunde war das ein Glücksspiel, das wusste er selbst. Manchmal stieß er lediglich auf salbungsvolles Geschwafel, das zu nichts führte und gewiss keine tiefen Einsichten brachte. Manchmal aber zog er das große Los und strich einen Schatz an Weisheit ein.
    In Buch zwei fand er dies: »Man wird nie gesehen haben, dass einer deswegen unglücklich gewesen sei, weil er sich nicht darum bekümmert hat, wie es in der Seele anderer Leute stehe; aber wer auf die Gedanken und Regungen seiner eigenen Seele nicht Achtung gibt, muss notwendig unglücklich sein.« Er sah vom Buch auf und aus dem vom Vorhang nur halb verdeckten Fenster; das diffuse Leuchten draußen rührte nicht von der nahenden Dämmerung her, sondern von den Lichtern der Stadt.
    Brunetti erwog die Worte des weisen Kaisers, musste dann aber an Patta denken, dem man manches nachsagen konnte, nur nicht, dass er unglücklich war. Doch wenn es je einen Menschen gegeben hatte, der den Bewegungen seiner eigenen Seele nicht mit Aufmerksamkeit folgte, dann war er es, Vice-Questore Giuseppe Patta.
    Keineswegs abgeschreckt von der Niete, die er mit dieser Stelle gezogen hatte, schlug Brunetti Buch elf auf. »Deinen Willen kann dir niemand rauben.« Jetzt klappte er das Buch zu und legte es beiseite. Wieder richtete er seine Aufmerksamkeit auf das Licht im Fenster und die Bemerkung, die er soeben gelesen hatte: Beides brachte keine Erleuchtung. Minister wurden erschreckend häufig verhaftet; der Regierungschef prahlte inmitten der sich verschärfenden Finanzkrise, er selbst habe keine finanziellen Sorgen und besitze neunzehn Häuser; das Parlament war nur noch eine einzige Schande. Und wo blieben die wütenden Proteste auf den Straßen? Welcher Abgeordnete erhob sich und prangerte die schamlose Plünderung des Landes an? Kaum aber wurde ein junges, unbescholtenes Mädchen ermordet, spielte das ganze Land verrückt; wenn einem die Kehle aufgeschlitzt wurde, lief die Presse tagelang auf Hochtouren. War vom Willen der Öffentlichkeit überhaupt noch etwas übrig, das durch das Fernsehen und die ständigen Übergriffe der gegenwärtigen Regierung nicht zerstört worden war? »O doch, man kann dir deinen Willen rauben. Und man hat es bereits getan«, hörte er sich sagen.
    In einer Mischung aus Zorn und Verzweiflung, den einzigen aufrichtigen Gefühlen, die den Bürgern noch geblieben waren, schob er die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Er blieb lange unter der Dusche und genoss den Luxus, sich dort zu rasieren, ohne sich Gedanken über die Wasser- und Energieverschwendung zu machen, oder auch darüber, dass er einen Wegwerfrasierer benutzte. Er hatte es satt, ständig an den Planeten zu denken: Sollte der sich zur Abwechslung mal selbst um sich kümmern.
    Er ging ins Schlafzimmer zurück und warf sich in Schlips und Anzug, dann aber fiel ihm ein, wohin er und Vianello an diesem Morgen gehen wollten, und er tat den Anzug in den Schrank zurück und zog eine braune Cordhose und eine dicke Wolljacke an. Nach einigem Suchen fand er unten im Kleiderschrank ein Paar Bootsschuhe mit dicken Profilsohlen. Er hatte keine Ahnung, welche Kleidung für ein Schlachthaus angemessen war, aber ein Anzug war bestimmt nicht das Richtige.
    Um halb acht brach er auf und trat in den hellen Morgen hinaus, der frische Luft und zunehmende Wärme verhieß. Das waren wirklich die besten Tage des Jahres, wenn durchs Küchenfenster die Berge zu sehen und die Nächte noch kühl genug waren, dass man aus dem Schrank eine zweite Decke holen musste.
    Unterwegs kaufte er eine Zeitung – La Repubblica, keine der beiden Lokalzeitungen – und frühstückte im Ballarin, Kaffee und Brioche. Die Pasticceria war belebt, aber noch nicht überfüllt, so dass die meisten Kunden am Tresen Platz hatten. Brunetti setzte sich mit seinem Kaffee an den kleinen runden Tisch, legte die Zeitung links neben die Tasse und las die Schlagzeilen. Eine Frau etwa in seinem Alter, die Haare gelb wie Ringelblumen, stellte ihre Tasse nicht weit von seiner ab, trank ein wenig, las über seine Schultern dieselben Schlagzeilen, sah ihn an und sagte in reinstem Veneziano: »Das macht einen ganz krank, oder?«
    Brunetti wedelte abschätzig mit der Brioche in seiner

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