Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition)
hatte, auch wenn er sich längst nicht mehr erinnern konnte, von wo er gekommen und wohin er gegangen war.
Gläserklingen holte ihn aus der Kindheit ins Erwachsenenleben zurück. Dass er, als er die Augen aufschlug, eine Flasche Moët in der Hand seiner Frau erblickte, beschleunigte die Rückkehr erheblich.
Sie füllte das zweite Glas und kam zum Sofa. Er zog die Beine an, um ihr Platz zu machen, und nahm das Glas, das sie ihm hinhielt. Sie stießen an, das Klingen der Gläser war Musik in seinen Ohren. Er trank einen Schluck. »Also schön«, sagte er, als sie neben ihm saß, »schieß los.«
Sie versuchte ein überraschtes Gesicht zu machen, aber da er keine Miene verzog, gab sie es auf und nippte erst einmal an ihrem Glas. Dann lehnte sie sich zurück und ließ ihre Hand auf seine Wade sinken. »Ich möchte wissen, ob es eine Straftat ist, wenn man von irgendwelchen illegalen Vorgängen weiß und die nicht meldet.«
Er nahm noch einen Schluck Champagner, beschloss, Paola nicht mit Komplimenten zu ihrer Wahl abzulenken, und dachte über ihre Frage nach. Ähnlich wie er Teos Teddybären heraufbeschworen hatte, jedoch viel weiter in die Vergangenheit zurückgreifend, ging er die Grundlagen des Strafrechts durch, die er an der Universität gehört hatte.
»Ja und nein«, sagte er schließlich.
»Wann wäre es ja?«, fragte sie.
»Als Beamter zum Beispiel hättest du die Pflicht, die Behörden zu informieren.«
»Und rein moralisch betrachtet?«, fragte sie.
»Da bin ich nicht vom Fach«, sagte Brunetti und nahm lieber einen Schluck Champagner.
»Ist es richtig, Verbrechen zu verhindern?«, fragte sie.
»Du möchtest, dass ich ja sage?«
»Ich möchte, dass du ja sagst.«
»Ja.« Er fügte noch hinzu: »Moralisch betrachtet. Ja.«
Paola dachte schweigend darüber nach, stand auf und ging die beiden Gläser nachfüllen. Immer noch schweigend kam sie zurück, reichte ihm seins und setzte sich. Aus jahrzehntelanger Gewohnheit ließ ihre linke Hand sich wieder auf seinem Bein nieder.
Sie lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und trank. Ihr Blick fiel auf das Gemälde an der Wand gegenüber, ein von ihnen vor Jahren in Sevilla entdecktes Porträt eines englischen Naturforschers, der ein Kragenhuhn in der Hand hält, und schließlich sagte sie: »Willst du mich nicht fragen, was das eigentlich soll?«
Er sah seine Frau an, nicht den Naturforscher mit dem Kragenhuhn, und sagte: »Nein, will ich nicht.«
»Warum?«
»Konkret gesagt, weil ich einen langen Tag hatte und sehr müde bin; in meinem Kopf ist kein Platz mehr für Dinge, die sich als problematisch erweisen könnten. Und so wie du fragst, scheint mir das nicht ausgeschlossen.«
»Und allgemein gesagt? Warum möchtest du nichts davon hören?«
»Weil ich, falls es sich als problematisch erweist, früher oder später ohnehin davon hören werde. Also brauchst du es mir nicht jetzt zu erzählen.« Er beugte sich vor und legte seine Hand auf ihre. »Ich kann jetzt wirklich nicht, Paola.«
Sie nahm seine Hand, drückte sie fest und sagte: »Dann gehe ich jetzt das Essen machen, ja?«
18
In der Nacht wachte Brunetti mehrmals auf. Paolas Frage ging ihm nicht aus dem Kopf. Was meinte sie damit, worauf war sie aus? Denn dass sie etwas im Schilde führte, stand für ihn fest. Er kannte das aus langjähriger Erfahrung: Sobald sie glaubte, sich einer Sache annehmen zu müssen, tat sie das wild entschlossen, war hinter Einzelheiten her, nicht Meinungen oder Ideen, und schien ihren Sinn für Ironie und Humor zu verlieren. Sie hatte im Lauf der Jahre schon einige solche Attacken von Übereifer gehabt, und oft hatte es dann Ärger gegeben. Brunetti spürte, es war wieder einmal so weit.
Jedes Mal wenn er aufwachte und den reglosen Klotz an seiner Seite spürte, staunte er aufs Neue über ihr Talent, sich von nichts, was um sie vorging, im Schlaf stören zu lassen. Er dachte an die Nächte, die er durchwacht hatte, geplagt von Sorgen um seine Familie, seine Arbeit, seine Zukunft oder die des Planeten oder schlicht um den Schlaf gebracht von einem besonders üppigen Abendessen. Während sie reglos, kaum atmend neben ihm lag, seelenruhig, ein Ausbund des Friedens.
Kurz vor sechs wachte er wieder auf und fand es sinnlos, noch einmal einschlafen zu wollen. Er ging in die Küche, machte sich eine Tasse Kaffee mit heißer Milch und ging ins Bett zurück.
Nachdem er den Agamemnon ausgelesen hatte, brauchte er, bevor er die Geschichte dieser
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