Tierische Profite: Commissario Brunnetis einundzwanzigster Fall (German Edition)
Hand. »Da kann man nichts machen«, entfuhr es ihm, aber dann fielen ihm Marc Aurels Worte ein. Anscheinend war ihm in der kurzen Zeit, seit er das Haus verlassen hatte, schon wieder sein Wille geraubt worden. Als habe er das nur so dahingesagt, sah er die Frau jetzt direkt an und meinte: »Außer wählen gehen, Signora.«
Sie sah ihn an, als sei sie auf der Straße von einem Patienten des Palazzo Boldù angehalten worden, einem Geisteskranken, der ihr die Geheimnisse des Daseins offenbaren wollte. Plötzlich von Widerwillen gegen seine Feigheit erfüllt, fügte Brunetti hinzu: »Und ihnen Kleingeld hinwerfen, wenn wir sie auf der Straße die Hand aufhalten sehen.«
Beruhigt, dass der Mann so schnell wieder zur Vernunft gekommen war, stellte sie ihre Tasse auf die Untertasse und brachte sie zum Tresen. Sie lächelte ihm zu, wünschte einen guten Tag, zahlte und ging.
In der Questura sah er als Erstes im Bereitschaftsraum nach, aber es war noch niemand von der Tagschicht da. Oben in seinem Büro warf er einen Blick auf seinen Schreibtisch, ob neue Akten gekommen waren, aber da hatte sich seit gestern nichts verändert. Er rief in seinem neuen Computer die anderen Zeitungen auf, aber die meldeten nichts Neues über den Ermordeten und den Fortschritt der Ermittlungen, und keine brachte das Foto, das man ihnen geschickt hatte. Alles Interesse galt der Neuigkeit, dass es sich bei der vor zwei Tagen in einem Erdloch bei Verona gefundenen Leiche um eine Frau handelte, die seit drei Wochen vermisst wurde. Sie war jung und attraktiv, folglich stand einzig ihr Tod im Vordergrund und hatte jenen anderen verdrängt.
Vianello kam herein und riss ihn aus seinen Gedanken. »Foas Vertretung wartet«, sagte er. »Er selbst hat erst ab dem Nachmittag Dienst. Am Piazzale Roma steht ein Wagen bereit.« Brunetti sah, dass auch der Ispettore an das Ziel ihres Ausflugs gedacht hatte: Er trug verwaschene Jeans, eine braune Lederjacke und derbe Wanderschuhe.
Brunetti suchte umständlich seinen Schreibtisch ab, ob er irgendetwas mitnehmen sollte, aber es fiel ihm nichts ein. Memmenhafte Verzögerungstaktik, befand er in jäher Selbsterkenntnis. »Gut. Gehen wir«, sagte er und schritt aus dem Büro.
Nach Preganziol brauchten sie eine geschlagene Stunde: Erst steckten sie in dem Knäuel von Autos und Bussen am Piazzale Roma fest, dann quälten sie sich durch den zähen Verkehr auf dem Ponte della Libertá und in den Außenbezirken von Mestre. Etwas zügiger ging es erst voran, als sie unter der Autobahn hindurch auf die SS 13 Richtung Norden gelangt waren.
Sie passierten die Einfahrten zur Villa Fürstenberg und Villa Marchesi und fuhren an den Bahngleisen entlang. Wieder langsamer ging es durch Mogliano; dann kamen sie an einer weiteren Villa vorbei, deren Namen Brunetti bei dem Tempo nicht lesen konnte. Ihr Fahrer sah weder rechts noch links: Die Villa hätte ein Zirkuszelt oder ein Atomreaktor sein können, er hätte den Blick nicht von der Straße abgewendet. Sie überquerten einen Bach, kamen an noch einer Villa vorbei, dann bog der Fahrer nach rechts auf eine schmale zweispurige Straße ein, um schließlich vor dem Eingang zu einem Industriepark anzuhalten.
Die Welt vor ihnen war eine Welt aus Beton, Maschendrahtzäunen, Gebäudequadern und manövrierenden Lastwagen. Die Gebäude waren fast vollkommen schmucklos: nackte rechteckige Kästen mit Flachdächern und sehr wenigen Fenstern; darum herum schmutzige Betonflächen und Zäune. Ein wenig Farbe brachten nur die Schriftzüge auf einigen Lastwagen hinein und ein Getränkestand, an dem Arbeiter sich mit Bier und Kaffee stärkten.
Der Fahrer drehte sich zu Brunetti um. »Das ist es, Signore«, sagte er und zeigte auf ein Metalltor in der Einzäunung eines Gebäudes. »Gleich da links.« Erst jetzt, als er ihn von vorne sah, bemerkte Brunetti eine breite glänzende Narbe, offenbar eine Brandwunde, die von seinem linken Auge aus über die Stirn verlief und, nur drei Finger breit, unter der Mütze verschwand.
Brunetti öffnete die Tür. Kaum ausgestiegen, vernahm er ein fernes, undefinierbares Geräusch, bei dem es sich ebenso gut um das Pfeifen von Silvesterraketen wie um Lustschreie oder eine malträtierte Oboe handeln konnte. Brunetti wusste jedoch, was das war, und wenn nicht, hätte ihm der starke Geruch nach Eisen verraten, was hinter diesen Toren vor sich ging.
Vezzani hatte Brunetti während der Fahrt angerufen: Der Direktor sei nicht im Haus, daher habe er dessen
Weitere Kostenlose Bücher