Tiger Eye
Kissen an ihrem Gesicht. Alberne Phantasie, tadelte sie sich und wandte sich zu der Schatulle um.
Sie lag nicht mehr auf dem Bett neben ihr.
Ihr drehte sich der Magen um, als eine weitere Vorahnung sie überkam. Sie fühlte eine schwache Bewegung hinter sich, sprang auf dem Bett herum...
... und sah ungläubig, wie eine Spirale aus reinem goldenen Licht durch das Zimmer wirbelte. Sie schimmerte in allen Farben des Sonnenuntergangs.
Das Licht nahm allmählich Form an und wurde immer heller, während es sich wie in glühenden Nadelköpfen zusammenzog. Dela blinzelte, und in diesem Augenblick verschmolz die Spirale. Sie fühlte einen lautlosen Donner, einen mächtigen Schlag, der die Luft erschütterte und alles in dem Zimmer anhob. Auch sie selbst.
Das Licht verschwand. Und stattdessen stand dort ein... Mann.
2
Unter Delas Hirnschale prickelte der Schreck, als wären Tausende von Äderchen auf einmal geplatzt. Sie rutschte so schnell vom Bett, dass sie fast das Handtuch verloren hätte, ihr einziges Kleidungsstück. Ihre Nacktheit aber fühlte sich weit weniger verrückt an als diese unmögliche Gestalt, die da vor ihr stand. Der Kopf des Mannes war kaum eine Handlänge von der Decke entfernt.
Er war riesig, schlank und muskulös, seine Haut sonnengebräunt. Dichtes Haar fiel über seine breiten Schultern. Es wies eine erstaunliche Palette an Farben auf - rot, blond, schwarz -und umrahmte ein Gesicht, das wie gemeißelt und durch die goldenen Augen fremdartig und wunderschön wirkte. Die Präsenz des Mannes erfüllte den Raum mit einer Macht, die Dela eine Gänsehaut über den ganzen Körper jagte. Gleichzeitig lief es ihr kalt über den Rücken.
Jäger, dieser Name drängte sich ihr unwillkürlich auf, als sie seinem Blick begegnete. Sie konnte einfach nicht wegsehen. Es war das zweite Mal an diesem Tag, dass sie einem Geheimnis gegenüberstand, aber dieses hier war unendlich fremdartiger, unerwartet, bizarr und vollkommen außergewöhnlich. Sie hatte die Wandlung von Licht zu Fleisch ja miterlebt, und dennoch konnte sie es kaum fassen. Ihr Verstand weigerte sich, das Gesehene aufzunehmen. Es war unmöglich. Irreal! Sie war so schockiert, dass sie nicht einmal an Flucht dachte. Oder an
Vergewaltigung, Mord. Die Erscheinung des Mannes wirkte einfach unfassbar.
Am Ende waren es seine Augen, die Dela wieder zu Bewusstsein kommen ließen. Ihr Blick war so verächtlich, so angewidert und voller Abscheu, dass seine Bösartigkeit sie fast wie ein Schlag ins Gesicht traf. Das letzte Mal hatte Dela auf dem College einen solchen Ausdruck auf dem Gesicht eines Mannes gesehen. Damals war sie mit ihrem damaligen Freund John in einer Nische der Bibliothek beim Knutschen erwischt worden. Der Beobachter hatte Dela angeblickt, als wäre sie Abschaum, und zwar nicht, weil sie in der Öffentlichkeit einen Mann küsste.
John war schwarz gewesen. Dela nicht.
Derselbe unbegreifliche Ärger und Ekel, das ebenso schrecklich überhebliche Urteil lag in dem Blick dieses Mannes. Delas kurzer Anflug von Furcht löste sich unter dem Ärger auf, der sie wie ein Peitschenhieb durchzuckte.
»Wer bist du?«, fragte sie. Dass sie halbnackt und verletzlich war, registrierte sie kaum, so wütend war sie. Und kurz davor, ihre Beherrschung zu verlieren. Ihr Zorn hatte die Kontrolle über ihren Körper übernommen. Wenn ihr dieser Kerl was antun wollte, würde er sein blaues Wunder erleben!
Der Teil von Delas Verstand, der noch kühl und vernünftig arbeitete, wies sie daraufhin, dass sie sich vor dem Dreckmarkt, als der Mann sie angegriffen hatte, während sie vollständig angekleidet und von einer Menschenmenge umringt war, längst nicht so mutig gefühlt hatte.
Heilige Scheiße!, dachte sie. Dieser Sinn für Ironie wird mich noch umbringen.
Hoffentlich nicht im wörtlichen Sinn.
Der Mann blinzelte. Er legte seine große Hand auf den gol-
denen Griff des Schwertes an seiner Hüfte. An dem mitgenommenen Lederharnisch, der seine Brust bedeckte, waren noch zahlreiche andere Waffen befestigt.
Dela übersah den flüsternden Stahl, den Geschmack von Blut und Tod. Sie wollte eine Antwort, was den unmöglichen Auftritt des Mannes betraf. Und sie wollte diesen hasserfüllten Ausdruck aus seinem Gesicht wischen. Insgeheim schätzte sie die Entfernung zu der Lampe, dem Stuhl, zu allem, das sie als Waffe einsetzen konnte. Allerdings, so wie er aussah, brauchte sie vermutlich mindestens eine Maschinenpistole.
»Wollt Ihr meinen Namen erfahren, so
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