Tiger Eye
Dela. »Ich freue mich zwar, alle wiederzusehen, aber ich vermisse es auch, nur mit dir allein zu sein.«
Allein mit Hari in ihrem neuen Haus im Wald, das sich in ein Bergtal schmiegte.
Hari lachte. »Ich muss den letzten Raum noch fertigstellen.«
»Oh, du hast Zeit genug.« Sie lehnte sich an ihn. »Außerdem kann ich mir nicht vorstellen, dass wir ihn gleich am Anfang viel benutzen werden.«
Hari drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Das klingt gut.«
Dann erstarrte er, und seine Augen blitzten. Ein Schatten glitt aus einer Gasse vor ihnen, und Dela roch den Duft von Sandelholz und Stein.
»Long Nü«, sagte sie. Die Drachenfrau schritt auf sie zu und grüßte sie mit einem Lächeln.
»Es freut mich zu sehen, dass es euch beiden gut geht«, sagte sie. »Ich dachte, ich komme kurz vorbei und sage Hallo.«
»Du hättest an der Party teilnehmen können«, antwortete Hari.
Long Nü schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich hätte sie alle nur an düstere Zeiten erinnert, und das hier sollte eine Zeit der Freude sein. Gehen wir ein Stück zusammen? Ich bin neugierig zu erfahren, wie es euch ergangen ist, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.«
Also schlenderten sie weiter und schilderten Long Nü ihr gemeinsames Leben, sagten ihr, dass sie kürzlich geheiratet hatten und beschrieben ihr Haus in den Bergen, das Hari mit eigenen Händen errichtet hatte. Sie erzählten ihr von Delas Ausstellung, die Gestaltwandler zum Thema hatte, und berichteten ihr auch von dem anderen Gestaltwandler, der vor Kurzem in die Dienste von Dirk & Steele getreten war.
»Wie schön für Koni«, erklärte Long Nü, obwohl sie von dieser Neuigkeit nicht sonderlich überrascht war. »Der Rabe hat endlich seine Stange gefunden.« Dann musterte sie Dela prüfend. Ihr Blick war scharf und weise. »Und was ist mit deinen Kräften, Dela? Sind sie weitergewachsen?«
Dela blinzelte überrascht. »Woher wissen Sie das?«
»Ich bin nicht nur eine Gestaltwandlerin«, erwiderte Long Nü. »Du solltest dich doch daran erinnern: Ich sehe nicht nur mit meinen Augen.«
»Ich erinnere mich, ja«, gab Dela zu. »Um Ihre Frage zu beantworten, nein, meine Kräfte sind nicht stärker geworden. Was mir aber auch ganz recht ist. Ich glaube, Kugeln aufzuhalten und Handschellen zu brechen genügt. Ich will nicht gierig sein.«
Hari stieß ein kehliges Knurren aus. »Trotzdem ist es ein
Rätsel«, meinte er. »Warum Delilahs Kräfte gewachsen sind, nachdem sie mich getroffen hat. Wir glauben, dass es etwas mit dem Öffnen der Schatulle zu tun haben könnte, aber auch das beantwortet die Frage nicht wirklich.«
Dela dachte an die Rätselschatulle, die sicher in einem Bankschließfach lag. Sie und Hari hatten beschlossen, sie auch dort zu lassen. Fürs Erste.
Long Nü lächelte. »Ich glaube, die Schatulle könnte zwar zur Erklärung beitragen, aber nicht auf die Weise, die ihr euch vorstellt. Ich vermute, du hattest schon immer viel Potenzial, aber dir fehlte einfach der Glaube, es freizusetzen. In Haris Nähe zu sein und dich echter Magie auszusetzen, hat die Blockade gelöst, die du dir selbst auf dein Bewusstsein gelegt hast. Durch Hari hast du angefangen zu akzeptieren, dass alles möglich sein könnte.«
»Sie haben viel darüber nachgedacht, stimmt’s?«
»Ich bin lediglich weise. Ein Geschenk fortgeschrittenen Alters.«
Dela schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich bin zwar weder weise noch alt, aber irgendetwas sagt mir, dass Sie einen anderen Grund als bloße Neugier hatten, uns aufzusuchen.«
Long Nü seufzte. »Bin ich so leicht zu durchschauen? Ich nehme an, du hast recht. Reine Neugier hätte mich nicht hergelockt, schon gar nicht bei all meiner Arbeit, die noch getan werden muss.«
»Du arbeitest?« Hari runzelte die Stirn.
Long Nü blieb stehen, und zum ersten Mal hatte Dela das Gefühl, dass sie hinter der alterslosen Schönheit des Frauengesichts etwas Dunkleres und Wachsameres erkennen konnte.
»Ich habe euch erzählt, dass ich Hari geholfen habe, weil meine Familie einmal ein Versprechen gegeben hat, und das stimmte auch. Aber ich hatte noch einen anderen Grund, einen viel wichtigeren als Ehre. Und der, meine Kinder, lautet: Überleben.«
»Das verstehe ich nicht«, sagte Hari. Dela dagegen verstand es schon, und Long Nü nickte ihr zu.
»Es gibt nur noch so wenige von uns, Hari. Die Welt hat sich verändert, und wir müssen uns mit ihr ändern, sonst sind wir für immer verloren. Es genügt nicht, allein zu leben und
Weitere Kostenlose Bücher