Tiger Eye
ihrer schlimmsten Prellungen geheilt. Ihr tat zwar noch alles weh, und sie war zu erschöpft, um gehen zu können, aber sie würde doch überleben. Sie würde leben.
Blue, Dean und Eddie gluckten wie ein Haufen Mutterhennen um sie herum. Hari stand auf und hob Dela in seine Arme. Dela sah an den Männern vorbei. Lise zog ihre Bluse zusammen. Sie wirkte sehr unbehaglich, so als fühlte sie sich deplatziert, und starrte unaufhörlich den toten Magier an, der immer noch ein Stück abseits auf dem Boden lag.
»Lise!«, rief Dela. Das Mädchen kam näher und zog den Kopf zwischen die Schultern, als die Männer ihre Aufmerksamkeit auf es richteten. Ein merkwürdiger Ausdruck erschien auf Eddies Gesicht, und er zog seine Jeansjacke aus.
»Hier«, murmelte er und hielt ihm das Kleidungsstück hin, sorgsam darauf bedacht, es nicht zu berühren. Dela verbarg ein Lächeln, als das Mädchen Eddies Jacke nahm. Es umklammerte den Jeansstoff, als wäre es eine Schwimmweste.
»Lise«, wiederholte sie leise. Hari wandte sich etwas zur Seite, damit sie das Gesicht des Mädchens besser sehen konnte. »Hast du jemanden, an den du dich wenden kannst?«
Lise riss ihren Blick von Eddies Gesicht los. »Nein. Dieser... Mann war alles an Verwandtschaft, was ich hatte.«
Hari brummte tief in seiner Brust. Dela streckte die Hand aus und legte sie auf Lises Wange. Das Mädchen hielt den Atem an, und Dela sah, wie Furcht und Hoffnung in seinen dunklen Augen miteinander rangen.
»Du bist nicht allein«, sagte Dela. »Mach dir keine Sorgen. Wir kümmern uns um dich.«
»Unbedingt.« Eddie errötete heftig, als alle ihn ansahen. Dean biss sich auf die Lippen, um nicht grinsen zu müssen.
»Ehm«, brachte er erstickt heraus und schaffte es, seinem Gesicht eine ernsthafte Miene zu geben. »Was machen wir mit El Freako?« Er deutete mit dem Kinn auf die Leiche des Magiers.
»Ich kümmere mich um ihn«, erklärte Long Nü, die ein überraschtes Keuchen erntete, als sie aus dem Schatten trat. »Ich kann seinen Leichnam an einem Ort verbergen, wo ihn niemand findet.«
In deinem Magen vielleicht? Dela runzelte die Stirn. »Warum hat der Magier gesagt, dass ihr eine Abmachung hättet?«
Long Nü lächelte kalt und freudlos. »Nachdem ich dir die Schatulle verkauft habe und der Magier dich nicht überfallen konnte, kam er an meinen Stand zurück. Er wusste, dass ich eine Gestaltwandlerin bin, und hatte Angst, dass ich Hari aus einem Gespür für Loyalität helfen würde. Ich versprach ihm, es nicht zu tun.«
»Sie sind eine Gestaltwandlerin?« Dean wirkte skeptisch. Long Nüs Augen blitzten, sie hob eine mit Schuppen besetzte und mit rasiermesserscharfen Krallen bewehrte Hand.
»Oh«, stieß Dean mehr als zufrieden gestellt heraus. »Gut, gut...«
»Warum haben Sie mir die Schatulle verkauft?«, fragte Dela. »Und warum waren Sie überhaupt dort auf dem Markt? Als ich versuchte, Sie wiederzufinden, behaupteten alle, Sie wären tot. Später habe ich herausgefunden, dass eine Frau mit anderen Papieren Ihren Platz eingenommen hat.«
»Sie lassen mir doch hoffentlich ein paar meiner Geheimnisse«, erwiderte Long Nü tadelnd, tippte sich dann jedoch an die Stirn. »Vor vielen Jahren hatte ich eine Vision, an wen ich die Schatulle verkaufen würde. Ich bin vor allem sehr geduldig. Und was das andere betrifft...« Diesmal wirkte ihr Lächeln echt. »Es gibt immer noch einige Menschen auf der Welt, die einem Drachen nur zu gern einen Gefallen tun.«
Hari kniff die Augen zusammen. »Ich kenne dein Gesicht.«
»Du kennst das Gesicht meiner Großmutter. Dein Freund, der nach dir gesucht hat und stattdessen den Magier fand, besaß eine alte Schatulle, die recht vertraut nach Tiger roch. Mein Großvater versuchte, den Magier zu töten, nachdem er die Geschichte aus ihm herausgeprügelt hatte. Aber er musste feststellen, dass dies nicht möglich war. Der Mann war unsterblich.
Der Magier konnte mit der Schatulle entkommen, und obwohl mein Großvater ihn suchte, hat er niemals auch nur eine Spur von ihm gefunden. Bis - fast eintausend Jahre später - der Magier meinen Vater aufsuchte. Er wollte unsere Hilfe. Er war verzweifelt.« Long Nü schüttelte den Kopf. »Du wusstest es nicht, Hari, aber der Magier war in den letzten zweitausend Jahren mit dir verbunden. Alles, was du erlitten hast, hat auch er gefühlt. Er hat den Tod eines jeden Mannes erlebt, den du tötetest. Wenn du... schliefst, fühlte er die Leere des Nichts, die ihn umgab. Selbst seine
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