Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Jahre zusammen gesehen hat, dass ich Gretchens Kind etwas antun würde, da sie jetzt selbst eine Tochter haben. Aber jetzt will er nicht zugeben, dass er daneben gestanden und jahrelang zugesehen hat, ohne ein Wort zu sagen. Gretchen würde ihn für einen Feigling halten. Sie könnte sich sogar fragen, ob ihr Kind möglicherweise etwas von ihm zu befürchten hat. Doch wenn Ricky sich selbst zum Opfer macht, hat das zur Folge, dass er Gretchens Sohn von mir fernhalten kann, ohne dass er einen verdächtigen oder schuldigen Eindruck macht. Egal, ich glaube einfach nicht, dass es von ihm kommt. Er würde nicht so lügen.«
»Aber wenn er es doch gesagt hat? Glaubst du, Inès setzt dich wirklich vor die Tür?«
»Ich weiß es nicht.«
»Du hast mal zu mir gesagt, sie würde dich niemals rauswerfen. Egal, was passiert.«
»Es geht um ihren Sohn. Auch Miguel könnte ihr Druck machen, damit sie mich rauswirft, wir wissen es nicht. Inès hat unter anderem zu mir gesagt: ›Ich vertraue meinem Sohn.‹ Weißt du, in der Zeit damals, als wir uns ständig stritten, hatte ich unglaubliche Angst vor dir. Ich wusste, dass du die Macht hattest, mich zu zerstören. Aber das hast du nie getan, das würdest du nie tun. Es ist diese Fremde … sie versteht uns nicht …« Er unterbrach sich, um eine Zigarette anzuzünden; er brauchte drei Versuche, bis das Feuerzeug funktionierte, so stark zitterten seine Hände.
Peter fuhr fort: »Selbst wenn Ricky so was gesagt hat … Gretchen ist diejenige, die Inès nicht ins Haus lässt. Weißt du, was sie zu Inès gesagt hat? Inès hämmerte irgendwann nachts gegen meine Tür, muss so gegen zehn gewesen sein. Sie sagte, Gretchen habe in ihrem schwarzen Aufzug und mit ihrer verrückten Perücke dagestanden und zu Inès gesagt: ›Solange du mit dem Kerl zusammen bist, wollen wir nichts mit dir zu tun haben.‹ Und dann ist sie verschwunden. Also, es wird noch was dauern, aber irgendwann wird Inès mit Ricky reden. Inès weicht den Dingen aus, solange es geht, aber in diesem Fall wird sie in die Enge getrieben. Wenn Ricky sagt, ich habe es getan, bin ich draußen. Das weiß ich.«
»Ricky, der hat mich immer mit einem Wort oder einer Geste gegrüßt, doch zum Ende hin, kurz vor seinem Auszug, wirkte er seltsam gehemmt, wenn er mich sah. Ich war so verschossen in ihn … was er wohl von mir gedacht hat …« Ich schlug die Hände vors Gesicht.
31
Das Erbe
Als ich nur wenige Monate nach den Anschlägen vom 11. September das letzte Semester vor meinem Abschluss begann, stopfte Peter einen großen schweren Umschlag in unseren Briefkasten und verschwand. Ich war an der Uni und absolvierte die Abschlussprüfung für Englische Literatur III. Da der Krieg die Benzinpreise in die Höhe trieb, bildeten viele Leute Fahrgemeinschaften. An jenem Mittwoch fuhr ich mit meinem Freund Manuel nach Hause, einem jungen Schwulen, der schwarz lackierte Fingernägel hatte und ständig davon fantasierte, mit Anthrax-Erregern vergiftet worden zu sein, nachdem er von seinem Schlafzimmerfenster aus verfolgt hatte, wie das zweite Flugzeug einschlug. Die Angst vor Anthrax war damals so verbreitet, dass in manchen Lokalen kein Puderzucker mehr auf belgische Waffeln und anderes Gebäck gestreut wurde.
Viele Läden auf der Bergenline verkauften Anstecker und T-Shirts mit der Aufschrift: »Osama – Wanted Dead or Alive«. Fast jeder hatte eine amerikanische Flagge vor dem Haus oder am Wagen. Eine gläubige Muslimin in meinem Journalismuskurs, die bis dahin einen Hidschab getragen hatte, war auf Jeans umgestiegen, nachdem drei Männer in einem Geländewagen versucht hatten, ihr Auto auf der schlimmsten Kreuzung von Jersey City in den entgegenkommenden Verkehr abzudrängen. Als ich meiner Mutter davon erzählte, schrieb sie es in ihr neuestes Faktenbuch, in dem allein rund zwanzig Seiten dem 11. September gewidmet waren. Poppa regte sich darüber auf, dass sie immer wieder behauptete, die Attentäter seien böse, ohne über die Geschehnisse nachzudenken, die zu diesem Anschlag geführt hatten. »Die wurden seit ihrer Kindheit bearbeitet«, sagte Poppa. »Was sie getan haben, ist falsch, aber sie glaubten, es wäre etwas Edles.« Anschließend rief meine Mutter Hotlines an und behauptete, ihr Ehemann unterstütze die Anschläge vom 11. September.
Als meine Mutter unser Tor zuschlagen hörte, ging sie zum Fenster und sah, wie Peter rasch mit gesenktem Kopf davonging, die Hände in den Taschen. Sie sah auf die Uhr, weil sie
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