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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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schwere Depressionen bekommen hatte und kurzzeitig sogar paranoid geworden war. Das passierte fast jedes Mal, wenn sie ins Krankenhaus musste. Es wurden immer neue Medikamente an ihr erprobt, von denen sich die Psychiater regelmäßig den großen Durchbruch erhofften; die Krankenhäuser erhielten Gratisproben und gaben sie an die Patienten aus. Wenn die neuen Pillen dann nicht anschlugen, landete meine Mutter wieder bei Zoloft und Thorazine. Peter war erzürnt. »Du wirst dort wie ein Versuchskaninchen behandelt«, sagte er, »als hättest du keine Rechte.« Meine Mutter zuckte mit den Schultern und sagte, so sei halt das System.
    Ich spürte, dass meine Mutter glaubte, Karen sei das Allerbeste, was mir passieren konnte. »Die Lehrer haben gesagt, dass Margaux sich in letzter Zeit in der Schule sehr zurückgezogen hat«, bemerkte sie kurz nach der ersten Begegnung mit Karen. »Vielleicht kommt Margaux mehr aus sich heraus, wenn sie mit einem anderen Mädchen spielt.«
    Auch Inès liebte Karen, so wie sie mich nie geliebt hatte. Sie nahm sich im Juli sogar eine Woche frei, und ich weiß noch, dass ich beobachtete, wie sich die beiden im Garten gemeinsam über das Blumenbeet unter der weißen Vogeltränke beugten und Inès ihr zeigte, wie man mit dem kleinen Metallspaten Löcher grub und Petunien hineinsetzte, vorsichtig wie ein kleines Baby. Wenn Karen manchmal Würmer oder sogar weiße Maden ausgrub, schrie ich drauflos, obwohl ich vorher nie Angst vor solchen Tieren gehabt hatte. Mir war die Lust am Gärtnern vergangen. Karen hingegen hatte keine Angst vor Würmern oder der einen oder anderen Made, sie steckte sie einfach in die Erde zurück.
    Seit ich Peter enttäuscht hatte, war er nicht mehr mit mir in den Keller gegangen, was mich erleichterte und gleichzeitig nervös machte; wenn er nicht mit mir hinunterging, hieß das dann, dass er Karen mitnahm? Und war sie wagemutiger als ich? Tat sie das, wozu ich zu feige gewesen war? Unablässig gingen mir diese Gedanken durch den Kopf, und ich behielt dabei Karen und Peter immer im Auge, damit sie sich nicht unbemerkt davonstehlen konnten.
    Ganz besonders achtete ich darauf, dass Peter Karen nicht ansummte. Ich wollte nicht, dass er sich Karen nackt vorstellte, und konnte den Gedanken nicht ertragen, dass zwischen den beiden etwas Besonderes war. Ich redete mir ein, Karen sei zu jung; Peter würde sie nicht wollen. Er hatte gesagt, acht sei das schönste Alter, nicht sechs. Er hatte gewartet, bis ich acht wurde, um mir seinen ganz besonderen Wunsch zu verraten. Außerdem liebte er mich auf eine andere Weise als Karen; ich spürte, dass er in ihr nur eine Tochter sah. Ich war diejenige, die das Potenzial hatte, seine Frau und die Mutter seiner Kinder zu werden, weil ich schon so reif für mein Alter war, und obwohl ich ihn einmal enttäuscht hatte, war ich ziemlich überzeugt, dass er mir inzwischen vergeben hatte.
    ***
    Karens blasse Augenwimpern standen weit auseinander, was ihr einen erschrockenen Gesichtsausdruck verlieh, doch etwas in ihren Augen strafte diesen Eindruck Lügen, und man merkte sofort, dass sie ein kleines Mädchen war, das nur selten staunte, das selten Angst hatte – ein Kind mit Kraft, Willen, Energie.
    Einmal goss ich ihr beim Grillen einen Krug Traubenpunsch übers Kleid. Wir hatten uns um eine Puppe gestritten und sie nach und nach zerrissen. Karen schrie triumphierend, sie hätte den Kopf, sie hätte den Kopf, ohne den Kopf wären Arme und Beine nutzlos! Ich hatte sie noch nie geschlagen, auch wenn es mir oft in den Fingern zuckte, während Karen nach mir schlug, wann immer es ihr in den Sinn kam. Ich merkte, dass ich im Vergleich zu ihr wie ein Engel wirkte, weil ich mich im Griff hatte. Wenn es wieder so weit war, schleppte Peter die um sich schlagende und tretende Karen in ihr Zimmer und verschloss die Tür. Ich blieb mit ihm draußen. Er sagte immer: »Ich finde es wirklich schrecklich, sie in ihrem Zimmer einzusperren, aber was soll ich machen? Ich kann nicht durchgehen lassen, dass sie uns wehtut und Sachen kaputtmacht.«
    Karens Zimmer war ein vom Wohnzimmer abgetrennter Raum; Peter hatte eine Wand mit Tür eingezogen, denn ein eigenes Zimmer war eine der Voraussetzungen für die Aufnahme eines Pflegekinds. Durch die dünne Gipswand hörten wir Karen schreien, schlagen und mit Sachen um sich werfen, bis sie schließlich nur noch weinte. Weil ich ihren Kummer nicht ertragen konnte, gelang es mir nach einer Weile immer, den Schlüssel von

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