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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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soll!«
    »Du hast es mir versprochen. Du hast mir alles versprochen. Jetzt brichst du dein Wort.«
    »Das ist ungerecht!«
    »Warum?«
    »Darum!«
    »Wieso ist das ungerecht? Du hast es versprochen, und jetzt bitte ich dich, dein Versprechen einzulösen, und wir haben uns geschworen, uns niemals anzulügen.«
    »Ich wusste doch nicht, was du von mir haben willst. Du hast es mir nicht gesagt!«
    »Nun, dann hättest du nicht ›alles‹ sagen dürfen. ›Alles‹ bedeutet auch alles.«
    »Ich kann das nicht!« Ich war den Tränen nahe. »Ich kann nicht! Wenn du mich dazu zwingst, muss ich brechen. Wenn du mich zwingst, Pipi zu küssen, dann muss ich brechen, Peter!«
    »Da ist kein Pipi. Er ist sauber. Die Gesellschaft hat dir ihre Vorschriften eingeimpft.«
    »Ich hasse Vorschriften!«
    »Nein, du bist wie alle anderen«, sagte er, zog seine Hose hoch und entfernte sich rückwärts. »Keine Sorge, ich zwinge dich zu nichts. Der böse Mann wird dir nicht wehtun. Ich werde dich zu gar nichts zwingen! So bin ich nicht! Wofür hältst du mich eigentlich?«
    Er öffnete die Kellertür und wollte gehen.
    »Nein, warte, Peter, warte!« Ich klammerte mich an sein T-Shirt.
    »Lass mich los!«
    »Ich kann es ja versuchen, jetzt hab ich mich schon an den Gedanken gewöhnt, vielleicht kann ich es versuchen.«
    »Lass los! Und hör auf, darüber zu reden!«
    »Aber ich bin nicht wie die anderen, Peter. Ich bin ich selbst.«
    Er schnaubte verächtlich.
    »Doch, wirklich, Peter! Das bin ich!«
    Er drehte sich zu mir um und raunte dort vor dem Haus im grellen Sonnenschein mit fast erstickter Stimme: »Du findest meinen Körper abstoßend. Du magst mich nicht, weil ich ein alter Mann bin. Du findest mich hässlich.«
    ***
    Fiver starb zwei Wochen später. Am Tag danach stand ich in meinem blauen Pulli, mit Söckchen und Spangenschuhen in der Schlange im großen blauen Spielzimmer, wo wir uns vor Schulbeginn aufstellen mussten. Ich verlagerte mein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. Meine Knie wurden weich, deshalb drückte ich die Beine durch, spürte mein Blut kribbeln und hatte Ameisen in den Füßen. Um mich zu beschäftigen, spielte ich mit der Kapuzenkordel meiner leichten Sommerjacke, auf die meine Mutter bestanden hatte, obwohl es Ende März schon sehr warm war. Ich wickelte die Kordel um meinen Finger, ließ los und sah zu, wie sie zurückschnellte, dann wiederholte ich den Vorgang. Als ein Bein anfing wehzutun, verlagerte ich das Gewicht auf die andere Seite. Schwester Mary in ihrer weißen Tracht war in der Nähe; mir war nicht klar, dass ich geschluchzt hatte, bis sie ihre Arme um mich legte.
    »Was ist denn los, Liebes? Was ist los?«
    Ich weinte so heftig, dass ich kein Wort herausbekam. Außerdem gefiel es mir, wie sie fragte: »Was ist los?« Ich wollte, dass sie es immer wieder sagte, wollte mich an meiner Traurigkeit festhalten. Sanft zog Schwester Mary mich an der Hand davon, und ich wusste, wohin wir gingen. In meinem Kummer leuchtete eine kleine Freude auf, weil ich nicht in den Unterricht musste.
    In dem weißen Kämmerchen in ihrem Büro fragte Schwester Mary mich immer wieder, was los sei, und mein Kopf wurde seltsam leer. Ich vergaß sogar, dass Fiver gestorben war, bis sie mein Gesicht streichelte und mir sagte, ich solle mich aufs Bett legen.
    »Ist dir schwindelig?«
    »Ja.«
    »Hast du Bauchschmerzen?«
    »Alles tut mir weh. Ich fühle mich, als ob alles falsch ist.«
    »Hast du ein Problem? Oder bist du einfach krank?«
    »Gestern ist mein Kaninchen gestorben.«
    »Oh, das tut mir leid. Denk einfach daran, dass das Kaninchen jetzt im Himmel ist. Es ist jetzt glücklicher als auf der Erde. Weil es im Himmel wunderschön ist. Herrliche Gärten und Flüsse und die buntesten Vögel, die man sich vorstellen kann.«
    »Was ist mit Futter?«
    »Dort gibt es alles, was Kaninchen gerne fressen: Möhren und Salat und Gras.« Sie nahm meine Hand.
    »Ich glaube, ich muss auch sterben.«
    Sie drückte meine Hand fester. »Sag nicht solche Dinge. Das stimmt nicht. Du trauerst nur. Jeder Mensch trauert, und irgendwann geht es wieder besser.«
    »Ich hab aus dem gleichen Wasserspender getrunken wie das Kaninchen, Schwester. Ich glaube, es ist ansteckend. Und ich habe etwas Schlechtes gegessen. Es gehörte mir nicht, ich hatte es nicht bezahlt. Wir waren in einem Geschäft, meine Mutter und ich, im Gemüseladen … und, und ich habe eine grüne Bohne geklaut. Als keiner geguckt hat, habe ich sie gegessen. Deshalb ist

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