Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Poppa so viel bedeutete.
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Doch wenn es dunkel wurde, war ich kein Mädchen mehr, dann stimmte alles mit mir. Um drei Uhr nachts lief ich auf Zehenspitzen die Treppe herunter und übte, wie eine richtige Katze zu springen. Ich übte vor dem großen Fernseher. Entweder wachte ich mitten in der Nacht auf, oder ich war gar nicht erst eingeschlafen. Deshalb übte ich. Leise fauchte und schnurrte ich vor mich hin. Dann sprang ich immer wieder auf das glatte Linoleum. Manchmal stellte ich mich auf die zweite Treppenstufe und sprang von dort, versuchte, so gut ich konnte, elegant auf meinen vier Tigerpfoten zu landen.
12
Das geblümte Nachthemd
Der Winter kam, und Poppa drehte die Heizung so niedrig, dass wir im Haus meistens Mäntel trugen. Er wurde noch strenger, was die Zeit betraf, die wir in der Dusche verbringen durften, außerdem hob er den Hörer ab und lauschte, wenn meine Mutter telefonierte, er öffnete die Briefe von Tante Bonnie aus Ohio und las sie, er steckte zu unerwarteten Zeiten den Kopf in mein Zimmer. Ich schlief immer noch im Elternschlafzimmer. Nachdem meine Mutter in den Küchenanbau umgezogen war, den Poppa vor kurzem für sie gebaut hatte, verzichtete er darauf, das Elternschlafzimmer für sich zurückzufordern, sondern schien mit dem kleinen Raum nebenan zufrieden, der vorher mein Zimmer gewesen war. Leider blieben unsere Probleme bestehen, weil er weiterhin ins Elternschlafzimmer gehen musste, um seine Kleidung zu holen, und ich in sein Zimmer musste, um an meine Sachen zu kommen.
Normalerweise sah ich nur fern, wenn Poppa bei der Arbeit oder in der Bar war. Meistens las ich nach den Schularbeiten, zusammengerollt unter dem Quilt, weil es immer eiskalt im Zimmer war. Ich las viele Erwachsenenbücher, Liebesgeschichten, Fantasy und Horrorromane, weil mich die meisten Jugendbücher einfach nur langweilten. Beispielsweise nahm ich der Erzählerin in Judy Blumes Deenie nicht ab, dass sie so naiv war, bis zu ihrem zwölften Geburtstag nicht gemerkt zu haben, dass sie etwas »Besonderes« zwischen den Beinen hatte. In dem Jahr verschlang ich zweimal Unten am Fluss sowie Stephen Kings Feuerkind und Carrie . Eines Tages beschloss ich sogar, meine gesamte in rosa Leder gebundene Kinderbibel zu lesen, von der Genesis bis zur Offenbarung. Da ich nur einige Stunden pro Nacht schlief, oft aus Alpträumen hochfuhr und danach nicht wieder in den Schlaf fand, gelang mir diese Großtat innerhalb weniger Tage. Auch Poppa war manchmal zu diesen Stunden auf, und wenn er mich dabei erwischte, dass ich unter der kleinen Lampe las, obwohl ich eigentlich die Augen geschlossen haben sollte, wurde er fuchsteufelswild und fluchte, es würde ihn nervös machen, wenn andere wach seien, die es nicht sein sollten. Ich wusste, dass er nicht nur von mir sprach. Meine Mutter konnte oft auch nicht schlafen, dann hörte sie die halbe Nacht Radio.
Mommy und ich beklagten uns untereinander darüber, dass Poppas Regeln ungerecht seien, beispielsweise dass außer ihm in den frühen Morgenstunden niemand wach sein durfte. Wovor hatte er eigentlich Angst, scherzte sie einmal gegenüber einer Freundin, dass wir ihm mitten in der Nacht die Kehle durchschneiden würden? Morgens durfte man erst ins Badezimmer, wenn er zur Arbeit gegangen war, weil er sich als Erster fertig machen musste.
Poppa wurde auch deutlich kritischer, was mein Aussehen betraf. Als ich kleiner war, hatte er immer behauptet, ich besäße die gewisse Art von Schönheit, von der die spanischen Dichter inspiriert worden waren, doch nun beschwerte er sich, ich sähe immer schlechter aus, teils weil ich so blass und dünn sei, teils wegen meiner schlechten Haut. Zu Weihnachten hatte Poppa mir Abos der Zeitschriften Teen , YM und Vogue geschenkt, weil er hoffte, wenn ich mir die Fotomodelle darin ansähe, würde ich lernen, wie ich mich zu bewegen hätte, wie ich mein Haar pflegen müsse, wie man Schminke aufträgt und, was am wichtigsten war, wie man Akne bekämpft. Ich wurde nun bald zehn Jahre, und in meinem Gesicht begann es regelrecht zu blühen. Poppa machte viel Aufhebens darum, ging sogar so weit, Schokolade im Haus zu verbieten, weil er überzeugt war, dass die Schokoladendonuts, die ich immer aß, die Ursache der Pickel seien. Fast jeden Abend musste ich mich unter die Neonröhren in der Küche stellen, damit er meine Haut durch seine Goldschmiedlupe untersuchen konnte. Welch neues Unheil auch immer er dabei entdeckte, er bestand darauf, es mit einer am
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