Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
aufhören! Wir wollen ihn einfach vergessen; wir reden nicht mehr über ihn oder über das, was geschehen ist. Wir wollen den Namen dieses Mannes nie mehr aussprechen!«
»Jetzt sagst du auch ›dieser Mann‹, genau wie Poppa! Du nennst ihn ›diesen Mann‹!«
»Sprich nicht mehr mit mir über dieses Thema! Wenn ich darüber rede, werde ich krank. Und ich möchte nicht wieder ins Krankenhaus! Können wir uns bitte über etwas anderes unterhalten? Die Sache ist vorbei, das allein ist wichtig!«
***
Unsere Speisekammer war vollgestopft mit Cornflakes-Packungen, Toilettenpapier, Haushaltsrollen und Gemüsekonserven. Außerdem stapelten sich dort die Fertiggerichte. Ich aß selten zu Abend, egal, wie sehr man mir drohte oder mir schmeichelte. Poppa ging dazu über, mir öfter meine Leibspeisen zu kochen: Spaghetti mit Muschelsauce, Brathühnchen, Empanadas mit Kichererbsen. Das aß ich zwar, erbrach es aber später wieder. Ich zwang mich nicht dazu, es geschah ganz von selbst. Ich konnte buchstäblich nichts bei mir behalten, nur Cornflakes und Fastfood, das ich mir tagsüber reinstopfte. In der Schule aß ich nur einmal in der Woche, wenn es in der Cafeteria mein Lieblingsessen gab: Chicken-Nuggets. Den Rest der Woche kaufte ich mir Schokolade und Donuts mit Puderzucker. Dann trug ich mein Tablett an einen einsamen Tisch, und die anderen Kinder kicherten. Sie hielten mich für total übergeschnappt, weil ich ständig mit den Gedanken woanders war: beim Kuchenbasar, beim Schlangestehen, in der Bibliothek, während der Probe für die Weihnachtsaufführung. Da ich es nicht schaffte, mich bei diesen Proben an die Regeln zu halten, wurde ich in die letzte Reihe auf der Bühne gestellt, wo ich nicht auffallen würde. Gegen das Wegdriften meiner Gedanken konnte ich nichts ausrichten. Es geschah jetzt schon seit gut einem Jahr mit mir, doch bisher hatte ich es verbergen können, da ich mich in die Wirklichkeit zurückbeförderte, wann immer es notwendig war.
Jetzt wollte es mir einfach nicht mehr gelingen, zuzuhören, wenn man mit mir sprach, selbst wenn es ein Lehrer oder der Schulleiter war. Die anderen Kinder stießen mich an, sagten, ich sei behindert oder ein Spasti. Es kam vor, dass ich in der Toilettenkabine auf dem Klositz hockte oder mir vor dem Spiegel die Hände wusch und plötzlich in die Realität zurückkatapultiert wurde, ohne zu wissen, wie lange ich fort gewesen war. Unsere Lehrerin Schwester Lenore musste gelegentlich ein Mädchen losschicken, um mich in die Klasse zurückzubringen. Jeden Abend fiel ich auf die Knie und betete, ich wolle mich bessern, wolle ein normales Mädchen sein, das sich konzentrieren konnte und, ohne zu schummeln, die Arbeiten in Mathe und Erdkunde bestand, ein Mädchen, das mittags mit Freunden zusammensaß. Das beim Warten in der Schlange nicht geschubst wurde, wenn keiner hinsah. Das auf dem Pausenhof nicht gejagt, zu Boden gerungen und von drei Jungen und einem burschikosen Mädchen verprügelt wurde. Das nicht von den Klassenkameraden umringt und mit einem Lied verspottet wurde: »Punkt, Punkt, Komma, Strich, fertig ist Margaux’ Mondgesicht.«
Ich wusste, dass ich es nicht verdiente, am Leben zu sein. Das war der Grund, warum mich alle hassten. Es würde niemals besser werden. Ich konnte nicht beeinflussen, wohin sich meine Gedanken bewegten; ich konnte nichts dagegen tun, dass meine Umgebung manchmal verschwand und dann wieder auftauchte. Gott half mir nicht. Jesus interessierte es nicht.
Es waren sieben oder acht Monate vergangen, seit wir zum letzten Mal bei Peter gewesen waren, und ich hatte so stark abgenommen, dass sich meine Eltern langsam Sorgen machten. Als meine Mutter mit mir zur Kinderärztin ging, sagte die, ich hätte zwar fünfzehn Pfund verloren, aber Mommy solle sich keine Sorgen machen; es sei bestimmt ein Wachstumsschub. Meine schlechten Essgewohnheiten seien nur eine Phase. Die schlechten Zensuren in der Schule seien wohl auf meine mangelnde Sehkraft zurückzuführen; ich würde oft die Augen zusammenkneifen und bräuchte wahrscheinlich eine Brille. Die Kinderärztin wies darauf hin, dass ich relativ früh in die Pubertät gekommen sei, und dieser Übergang zur Frau sei großer Stress für den Körper. Sie war daran gewöhnt, dass meine Mutter um jede meiner Krankheiten, Verletzungen oder Eigenarten großes Aufhebens machte. »Noch etwas«, sagte meine Mutter schließlich, als die Ärztin versuchte, sie hinauszubefördern. »Sie springt immer so
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