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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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komisch. Früher hat sie das nie getan.« Wenn ich neben meiner Mutter ging oder mich in der Schule in der Reihe aufstellte, unterbrach ich meinen regelmäßigen Schritt mit einem unvermittelten Hüpfen oder einem »Hopser«, wie Peter sich ausgedrückt hätte. Es geschah gegen meinen Willen, wie ein Schluckauf. Für mich war es ein weiterer Beweis dafür, dass bei mir im Kopf etwas nicht stimmte. Die Kinderärztin sagte, meine Mutter solle es im Auge behalten, dann widmete sie sich dem nächsten Patienten.
    Seit einigen Monaten fütterte ich die Tauben auf der 32nd Street packungsweise mit alten Cornflakes, weil meine Mutter ständig zu viel kaufte: Fruit Loops , Lucky Charms , Cheerios . Inzwischen vertrauten die Vögel mir. Nach und nach landeten sie auf mir, setzten sich auf meine Schultern, meine Beine, eine thronte sogar auf meinem Kopf. Ich spürte, wie ihre gummiartigen Füße meine schrundigen Knie streiften, spürte ihre Schnäbel auf den Kratzern an meinen Armen, fühlte ihre Kehlen in meinem Haar, wenn sie auf meinen Schultern saßen. Sie liebten mich. Meine Tauben liebten mich. Sie fraßen mir aus der Hand und von den Beinen.
    Ich verfasste Geschichten über die Vögel und beschloss, sie in einem Buch namens Die Probleme und Prüfungen der Tauben zusammenzufassen – ein eindrucksvoller Titel, wie ich fand. Eines Tages würde ich das Buch veröffentlichen, davon war ich überzeugt.
    Manchmal jedoch konnte ich nicht anders, als in den Vögeln nur eine riesengroße graue Maschinerie zu sehen. Wenn eine der Tauben Angst bekam, flogen alle davon. Wenn eine zu landen beschloss, waren bald alle da und pickten, selbst wenn es nichts zu fressen gab.
    An einem grauen Novembertag kam mir ein unangenehmer Gedanken. So sehr die Tauben mich anscheinend liebten und mochten, wäre es ihnen doch egal, wenn ich tot wäre. Es würden neue Menschen kommen, die sie fütterten. Je mehr ich mich in diesen Gedanken verstieg, desto losgelöster fühlte ich mich. Ich fing an, die Cornflakes einfach aus den Packungen zu schütteln, ohne dabei etwas für meine Vögel zu empfinden. Sie machten doch immer nur dasselbe, ohne Unterlass. Plötzlich schnappten meine Hände zu und packten das mir nächste Tier. Die anderen Tauben flogen davon; die unzähligen schlagenden Flügel verursachten einen heftigen Luftstoß. Der Vogel in meiner Hand flatterte wie von Sinnen, um mir zu entkommen.
    »Lass ihn los! Lass das dreckige Ding sofort los!«, rief meine Mutter.
    Ich hielt fest.
    »Margaux, du holst dir eine Krankheit! Lass jetzt sofort diesen dreckigen, ekligen Vogel los! Lass los, oder ich sage es deinem Vater!«
    Ich hielt fest, so sehr sie mich auch anschrie. Das Schlimmste daran war, meinen Namen zu hören, »Margaux«. Mehr als alles, was sie zu mir sagen mochte, hasste ich den Klang meines Namens aus ihrem Mund.
    Schließlich merkte ich, was ich da tat und welch große Angst der Vogel hatte. Ich öffnete die Finger und sah in der Luft einen kleinen grauen Punkt, der immer kleiner wurde.
    ***
    In unserem Wohnzimmer hatte Poppa Kopien von Picassos Petite Fleurs und van Goghs Sternennacht aufgehängt. Besonders stark beeindruckten mich jedoch seine Reproduktionen von Matisse; mein Vater hatte mir erzählt, dass La Danseuse Créole und Nu Bleu I Frauen darstellen sollten, doch ich hielt Erstere für einen Marsmenschen und Letztere für willkürlich hingeschmierte blaue Farbkleckse. Irgendwann konnte ich in dem gefiederten Wesen mit dem grünen Kopf auf La Danseuse Créole eine Frau ausmachen, doch ich verbrachte einige Jahre damit, Nu Bleu I mit zusammengekniffenen Augen zu betrachten in der Hoffnung, einen Blick auf die liebliche Frau zu erhaschen, die mein Vater und Matisse darin so mühelos erkannten. In jenem Jahr schaute ich mir das Bild immer wieder genau an, und nach einer Weile sah ich tatsächlich den angezogenen linken Oberschenkel und das liegende rechte Bein, wie ein zerdrückter Lippenstift, ebenso den ausgezehrten Torso, die vom Körper abgetrennten Füße und die in verzweifelter Pose in den Nacken gelegte Hand. Nachdem ich das erkannt hatte, wünschte ich mir verzweifelt, wieder nur die willkürlichen blauen Formen sehen zu können, doch es ging nicht. An der mittleren Wohnzimmerwand hing rechts von diesem Bild das große Ölgemälde einer nackten Frau. Sie lag auf einem braunen renaissanceartigen Bett und hatte eine weiße, radförmige Blume in der Hand. Ihre Brüste waren zu sehen, ihr Bein hatte sie so angezogen, dass

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