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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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aber Jonas
     war sich sicher, dass sie nicht wahrnahm, was dort vor sich ging. Und das nicht wegen der Haare, die ihr vor die Augen hingen. |80| Sie sagte nichts, sah niemanden an, benahm sich, als ob um sie herum dichter Nebel wäre.
    Jonas schnitt ein Stück von einer der Kohlwürste. Die Würste waren das Einzige, was schmeckte. Seine Gedanken wanderten wieder
     in die Betonröhre zu Tiger und Torte. Tante Tiger hatte nicht gewusst, wie sie die Torte essen sollte. »Ihr hättet mir Besteck
     mitbringen müssen«, hatte sie geknurrt. »Wie soll ich das denn essen?«
    »Einfach essen«, hatte Jonas vorgeschlagen.
    Schließlich hatte sie ihre Brille verlangt. »Ich kann das ja kaum sehen, das Zeug, so unscharf und farblos ist alles.«
    Mit rasendem Herzen und zitternden Händen hatte Jonas versucht, dem Tiger in der Dunkelheit die Brille aufzusetzen, aber die
     Ohren befanden sich nicht seitlich am Kopf, sondern ein ganzes Stück über den Augen; das hielt nicht, und wenn, dann hing
     die Brille schief und nutzlos über dem Tigerkopf. Auch standen die Augen viel zu weit auseinander. Jonas konnte immer nur
     ein Glas vor ein Auge halten.
    »Das wird ja nur schlimmer«, jammerte Tante Tiger. »Die Stärke stimmt überhaupt nicht mehr.« Plötzlich, mit einer schnellen,
     kurzen Bewegung, hob sie die Pranke, zog sie durch die Torte und leckte dann mit lautem Schmatzen Sahne von ihrer Tatze. Zum
     ersten Mal, so schien es, hatte Tante Tiger ihr Unglück für einen Moment vergessen.
    Die Nachrichten waren jetzt fast zu Ende. Es lief der Wetterbericht. Der nächste Tag sollte noch heißer |81| werden, fast dreißig Grad. Jonas’ Vater schaltete den Fernsehapparat aus. Die Stille war bedrückend. Überdeutlich hörte Jonas
     das Schaben und Kratzen des Bestecks auf den Tellern.
    »Danke für die Bratwurst, Papa«, sagte er, um überhaupt etwas zu sagen. »Hat gut geschmeckt, besonders als Frühstück.«
    Ein Lächeln teilte den Bart des Vaters und auf einmal sah Jonas nicht mehr den müden Mann auf der Küchenbank, sondern den
     Feuerwehrmann, der mit einem einzigen lässigen Spuckestrahl ein Streichholz löschen konnte, das er mit gestrecktem Arm vor
     sich hielt.
    »Eine gute Wurst schmeckt immer. Egal zu welcher Tageszeit, warm oder kalt, ganz egal, nur gut gewürzt und dick muss sie sein.«
     Sein Vater stach mit seiner Gabel in eine der Kohlwürste, dass das Fett spritzte.
    »Ich freu mich ja, wenn dir die Würste schmecken, Jonas«, sagte jetzt seine Mutter, »aber iss bitte auch den Kohl und die
     Kartoffeln, nicht nur die Wurst.«
    Jonas verdrehte die Augen. Lustlos rührte er in dem grünen Matsch, zog mit der Gabel kleine Furchen und spießte schließlich
     eine Kartoffel auf.
    »Zwerg Nase, der Feinschmecker«, kam es plötzlich gedehnt hinter dem schwarzen Haarvorhang hervor. Schlagartig verstummte
     das Gekratze und Geschiebe. Alle hörten auf zu kauen. »Ich frag mich ja«, Vera sprach jetzt etwas schneller, »wie du überhaupt
     noch eine Wurst anschauen kannst, ohne dass dir schlecht wird.«
    |82| Jonas sah aus den Augenwinkeln, wie die Oberlippe seiner Mutter zu beben anfing. »Vera, hör auf damit, wir essen gerade.«
    »Ist doch nichts Schlimmes«, sagte Vera und strich sich die Haare aus dem Gesicht. »Wir müssen doch alle aufs Klo, jeden Tag.
     Und ihr denkt, wir spülen runter und damit ist der Fall erledigt.«
    »Ist er auch!« Jonas’ Mutter saß jetzt stocksteif am Tisch. »Vor allem, solange wir hier sitzen und essen.«
    »Mir doch scheißegal«, zischte Vera.
    »Es langt!« Das Gesicht von Jonas’ Vater wechselte langsam die Farbe. »Eure Mutter hat völlig recht. Ihr haltet jetzt den
     Mund und esst.«
    »Ich hab überhaupt nichts gesagt vom Klo, nur von Bratwürsten«, beschwerte sich Jonas.
    »Sie ist nicht meine Mutter.« Das war Vera.
    Jonas’ Mutter war inzwischen richtig wütend. »Mutter hin oder her. Ich habe dieses Essen gekocht und lasse mir von dir nicht
     den Appetit verderben. Das würde dir deine Mutter auch nicht erlauben.«
    »Die hat mir noch ganz andere Sachen erlaubt.«
    Zum ersten Mal sah Jonas, dass Vera rot wurde; zusammen mit den grünen Lippen sah das fast lustig aus. »Da konnte ich sagen,
     was ich wollte, und machen, was ich wollte! Und so einen Fraß hat es da auch nicht gegeben!« Veras Gesicht glühte jetzt, sie
     schlug mit beiden Fäusten gleichzeitig auf den Tisch, sodass ihr Teller sprang und ein Batzen Grünkohl auf dem Tisch landete.
     Sie stieß ihren

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