Tiger Unter Der Stadt
Stuhl zurück und stampfte wütend aus der Küche.
|83| »Vera!«, brüllte der Vater. Im selben Moment knallte Veras Zimmertür zu.
Jonas verfolgte das Ganze atemlos. Dieser Wutausbruch war jedenfalls besser als das bedrückende Schweigen, in dem sie sonst
oft um den Tisch saßen. Trotzdem wollte er etwas Versöhnliches sagen, zum Beispiel, dass Grünkohl ja viel gesünder sei, als
er aussähe, da fuhr ihn seine Mutter an: »Und du isst jetzt endlich deine Kartoffeln und den Kohl!«
Mit großem Widerwillen zerdrückte Jonas die Kartoffel, die die ganze Zeit auf seiner Gabel gesteckt hatte, und vermengte sie
mit dem schwarzgrünen Matsch. Er hielt die Luft an und schob sich alles in den Mund. Der Geschmack erinnerte ihn an Geldmünzen:
metallisch und bitter. Tante Tiger hatten die Kartoffeln besser geschmeckt als ihm. Zuerst hatte sie sich aber beschwert,
dass Lippe und er das Salz vergessen hätten. Kartoffeln ohne Salz, das könne doch kein Mensch essen, hatte sie geknurrt. »Das
schmeckt ja wie Arsch und Friedrich! Und Geschirr habt ihr mir auch nicht mitgebracht. Ich bin doch kein wildes Tier, nur
weil ich mit einem Schwanz und einem Pelz rumrennen muss. Ich bin fast achtzig Jahre alt und die Knochen tun mir weh. Ich
mag nicht mehr.« Sie hatte sich fallen lassen und nichts mehr gesagt.
Erst als Jonas die Kartoffeln auf einer der Plastiktüten ausgebreitet und den Kräuterquark darübergeschüttet hatte, war wieder
Bewegung in den Tiger gekommen. Schweigend war er herangetrottet und hatte vorsichtig eine Kartoffel ins Maul genommen. Tante |84| Tiger hatte dann die Kiefer nach links und rechts bewegt, nach oben und unten, und Jonas hatte kichern müssen. Der Tiger hatte
ausgesehen, als ob er eine Kuh nachmachen würde, die auf der Wiese steht und wiederkäut. Sein furchterregendes Haupt hatte
auf einmal brav, fast dämlich ausgesehen. »Ich will mein Gebiss zurück!«, hatte Tante Tiger plötzlich gebrüllt. »Mit diesen
Lanzen im Maul kann man ja nichts kauen, sondern nur zerreißen, zerfetzen.«
Dann hatte sie die Kartoffeln ohne zu kauen hinuntergeschlungen – in einem unglaublichen Tempo. Zum Schluss war die Tigerschnauze
über und über mit Kräuterquark beschmiert gewesen.
»Jonas, schling nicht so. Und wisch dir mal den Mund ab. Dein Kinn ist schon ganz grün.« Die Mutter reichte ihm ein Taschentuch
und sah ihn wieder mit hochgezogenen Augenbrauen an. Jonas wischte sich den Mund ab.
Er hatte wirklich den ganzen Teller aufgegessen; alle Würste, alle Kartoffeln – ein paar grüne Kohlfetzen lagen da noch, sonst
war alles weg. ›Danke, Tante Tiger‹, dachte Jonas. ›Ohne dich hätte ich das nicht runterbekommen.‹
Er stand auf und wollte gerade die Küche verlassen, da hielt ihn seine Mutter zurück: »Sag deiner Schwester, dass wir morgen
einen Ausflug an einen See machen wollen und sie nicht so spät nach Hause kommen soll. Spätestens um elf.«
»Meiner Halbschwester!«, stellte Jonas richtig und zog die Küchentür hinter sich zu. Er war überzeugt, |85| dass Vera die Nachricht über den Ausflug in Wut versetzen würde – und hoffentlich auch in Angst und Schrecken. Sie mochte
kein Wasser und wahrscheinlich konnte sie nicht einmal schwimmen.
»Verdächtig, verdächtig, sehr verdächtig, das Schwesterchen«, würde Lippe dazu sagen, »oder hast du schon mal einen schwimmenden
Vampir gesehen? … Na also.«
Jonas stand vor dem schwarzen Tuch, auf dem das rote V prangte. Das Nest der Viper, die Gruft des Vampirs. Er hob den schwarzen
Stoff zur Seite und klopfte.
»Haut ab!«, dröhnte es dumpf durch die Tür.
»Ich soll dir was ausrichten«, rief Jonas, »wegen morgen.« Er holte tief Luft, presste die Lippen zusammen und trat ein.
Dunkel war es und stickig. Die Vorhänge waren zugezogen, die Wände mit dunklen Tüchern verhangen. Drei Kerzen, die auf einem
niedrigen Tisch in der Mitte des Zimmers brannten, waren die einzige Lichtquelle. Ein schwerer Geruch hing in der Luft. Er
kam von einem dünnen Stängel, der neben den Kerzen glühte und von dem ein kleiner Rauchfaden aufstieg. Ein Räucherstäbchen.
Es war Jonas ein Rätsel, warum man damit freiwillig die Zimmerluft verpestete.
»Ach, Zwerg Nase persönlich gibt sich die Ehre.« Vera kniete neben dem Tischchen am Boden. Auf dem Tisch stand ein Fläschchen,
in das Vera immer wieder einen kleinen Pinsel tauchte, um eine zähe, dunkle |86| Flüssigkeit auf ihre Nägel zu streichen. Ob
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