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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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Auf der Innenseite des Topfdeckels verhinderten zwei verschieden große Knöpfe,
     dass die Enden des Schnurhenkels durch die Löcher im Deckel rutschten. Diesen Topfdeckel gab es nur einmal auf der Welt, dachte
     Jonas plötzlich. Er wusste aber nicht, ob er Frau Ohm für ihren Einfallsreichtum bewundern oder ob er sie bedauern sollte.
     Scheinbar hatte sie nicht einmal das Geld für einen neuen Topfdeckel.
    Von den Gewürzen bis zu einer Sammlung kleiner Bürsten war alles in alten Marmeladengläsern oder ausgespülten Joghurtbechern
     untergebracht. Eine Konservendose stand als Blumenvase auf dem Küchentisch. Auf dem Heizkörper in der Küche entdeckte Jonas
     ein kleines Backblech, das mit einem Stück Zeitung ausgelegt war; auf der Zeitung lag ein kleiner Haufen Teeblätter und eine
     auf die Seite gelegte gläserne Kanne, in der sich ebenfalls Teeblätter befanden. Es sah aus, als würden sie getrocknet. Aber
     wozu? Jonas merkte, wie er darüber nachdachte, was für ein Mensch Frau Ohm wohl war – oder vielleicht besser: gewesen war?
    Der Kühlschrank war gefüllt mit Kräuterquarkpackungen, H-Milch und Butter, sonst nichts. Keine Wurst, keine Limo, keine Tomaten.
    »Wie das wohl ist, wenn man alt ist?« Jonas fing an, die Quarkschachteln herauszuräumen. »Ob einem dann nur noch Kräuterquark
     schmeckt?«
    |71| »Meine Oma in Russland mag auch Cola und Salzstangen«, sagte Lippe. »Aber ich glaube, sie mag es nur, weil es gegen Durchfall
     hilft. Keine Ahnung, ob es ihr schmeckt. Ich glaub ja, dass Alte immer Tee trinken und an früher denken.«
    »Eigentlich könnte es ja ganz schön sein«, meinte Jonas. »Keine Hausaufgaben, keine Arbeit, zu der du musst.« Er nahm eine
     rostige Schere aus einem großen Joghurtbecher und ließ sie auf und zu klappen. Es quietschte scheußlich. Er dachte an seine
     eigene Oma, wie sie in der Küche saß und ganz langsam eine Zeitungsseite nach der anderen umblätterte. Sie sprach fast nur
     noch über die Preise im Supermarkt und über Gott. »Ich glaube, man hat dann zu viel Zeit und denkt dauernd ans Sterben.« Jonas
     steckte die Schere zurück in den Becher. »Hast du Angst vorm Sterben?«
    Lippes Kopf verschwand gerade in einem der Schränke unter der Spüle, seine Stimme klang dumpf: »Nein, nur vor dem Zerfleischtwerden.
     Genauer gesagt vor dem Moment, wenn sich die Reißzähne in den Nacken bohren.« Ein Knistern war jetzt noch aus dem Küchenschrank
     zu hören. »Als mich Tante Tiger zum ersten Mal mit ihren gelben Augen angestarrt hat, hab ich gedacht, das war’s, jetzt sterbe
     ich – ein Glück, dass sie Vegetarierin ist.«
    Er tauchte wieder auf; in der Hand hielt er eine Plastiktüte.
    »Ich habe schon mal versucht, mir vorzustellen, wie das ist, wenn ich tot bin«, sagte Jonas. »Aber es geht |72| nicht. Ich kann mir nicht vorstellen, überhaupt nichts mehr zu denken.«
    »Und was du dir nicht vorstellen kannst, liegt im Dunkeln«, sagte Lippe und fing an, die Kartoffeln aus dem Topf in die Plastiktüte
     zu füllen. »Deshalb ist der Tod schwarz. Aber in Wirklichkeit hat er eine ganz andere Farbe.«
    »Welche denn?«
    »Das ist eine der letzten großen Fragen der Menschheit. Und wir werden sie lösen, koste es, was es wolle.
Spürnase und Dicke Lippe auf der Spur der Farbe des Todes
– Hepp!«
    Lippe warf Jonas eine Kartoffel zu, die er gerade noch fangen konnte.
     
    Jonas goss dann noch die Blumen auf dem Balkon, während Lippe den Rest der Sachen suchte.
    Als Jonas zurück ins Wohn- und Schlafzimmer kam, lagen auf dem Tisch neben der Sahnetorte ein kleines Radiogerät, ein Brillenetui,
     eine Wolldecke und ein Kamm. Lippe kniete am Boden vor einer großen Schachtel mit unzähligen Tuben, kleinen und großen braunen
     Fläschchen, Tablettenschachteln in allen Größen, dazu noch Mullbinden, Pflaster und Gummistrümpfe.
    »Weißt du noch, was wir mitnehmen sollen?«
    »Keine Ahnung. Nimm doch einfach alles mit.«
    Lippe stöhnte. »Zu viel Medizin ist ungesund, das sagen alle Medizinmänner, auch mein Vater.« Er verschwand in der Küche.
    |73| Auf einem Kästchen neben dem Bett entdeckte Jonas ein Buch und ein kleines gerahmtes Foto. Ein ziemlich fetter weißer Hund
     schaute in die Kamera. Herr Teichmann. Jonas legte das Bild zu den Sachen auf dem Tisch und nahm das Buch in die Hand. Es
     war groß, schwer und der Einband zeigte eine grün gefiederte Pflanze, auf der Tautropfen glänzten. GROSSER KOSMOS DER FARNE
     stand in dicken Buchstaben

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