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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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über dem Foto. Farne, das klang ausgesprochen langweilig. Jonas selbst las, wenn überhaupt, nur
     Comics. Trotzdem wollte er das Buch schon mitnehmen, als ihm einfiel, dass es in der Röhre zum Lesen viel zu dunkel war.
    Lippe kam mit einer zweiten Plastiktüte und schüttete den gesamten Inhalt der Medikamentenschachtel hinein. Die Tüte war randvoll.
    In der Diele entdeckten sie ein Handwägelchen. Jonas und Lippe brachten fast alles in den Taschen unter; nur die Sahnetorte
     und die Wolldecke passten beim besten Willen nicht mehr hinein. Jonas musste sie in der Hand tragen. Lippe nahm den Handwagen.
     Als sie die Wohnung verließen, griff sich Lippe noch einen der rosa Schals und hängte ihn sich um den Hals.
    »Ich glaub, ich weiß jetzt, wie es ist«, sagte er, als sie die Sachen die Treppe hinunterschleppten.
    »Wie was ist?«
    »Alt sein. Du hast dauernd das Gefühl: keiner hilft mir.«
    »Dann ist es ja genauso wie jung sein«, keuchte Lippe |74| und wuchtete den Handwagen die nächste Treppe hinunter – nicht einmal einen Aufzug gab es hier.
     
    »Guck mal, die beiden Süßen wollen heiraten. Die Braut mit knallerosa Schleier, und der Brautmann in romantischen Schuhen
     mit Herzchen, bestimmt ein Heiratsgeschenk.«
    Die beiden Mädchen, die sie vom Fenster aus gesehen hatten, saßen immer noch auf der niedrigen Mauer und kicherten und lachten,
     als sie Jonas und Lippe aus der Tür kommen sahen. Sie waren bestimmt nicht älter als Jonas. Beide hatten dunkle Haut und schwarze
     Haare. Türkinnen vielleicht?
    Die Spötterin war dünn und kurzhaarig, in Schwarz und Weiß gekleidet, um Hals und Armgelenke trug sie dünne Goldketten. Die
     Nase war spitz, die Augen schmal. Fast sah sie wie ein Junge aus. Die andere war größer, runder und hatte langes kräftiges
     Haar. Über weiten Hosen trug sie einen tiefrot schimmernden Überwurf. »Der muss sogar seinen Hochzeitskuchen selber tragen«,
     prustete sie jetzt.
    Wie immer, wenn Jonas wirklich wütend war, fiel ihm nichts ein. Am liebsten hätte er der Dicken die Torte ins Gesicht geschmissen.
     Zum Glück war Lippe dabei. »Wen sollen wir denn außer uns heiraten? Euch vielleicht?«
    Die Dünne kniff die Augen zusammen. »Da nehm ich noch lieber einen Besen. Der redet kein Mist und hat bessere Frisur.«
    »Oh, der Besen und die Kratzbürste!«, rief Lippe |75| mit übertriebener Begeisterung. »Was für ein Traumpaar! Und jetzt entschuldigt bitte. Wir würden euch ja gerne weiter in Hochzeitsfragen
     beraten – aber uns fehlt leider die Zeit: Unser Tiger hat Hunger, er wartet sehnsüchtig auf sein Abendessen.« Er schürzte
     die Lippen.
    Wie ein hochmütiges und gelangweiltes Kamel sah Lippe aus, als er sich gemächlich in Bewegung setzte.
    Jonas war so entsetzt, dass er stehen blieb. Wie konnte Lippe so blöd sein und Tante Tiger erwähnen?
    »Sagst du mal, dein Freund, der ist so bisschen durchgeballert, oder?« Das war die Dünne, die genauso hinter Lippe herglotzte
     wie Jonas. Allmählich dämmerte ihm, warum Lippe Tante Tiger erwähnt hatte. Der Überraschungseffekt war so groß, dass man sich
     aus dem Staub machen konnte, und glauben würden es die beiden Hühner sowieso nicht.
    »Habt ihr denn keinen Tiger?«, fragte Jonas. »Ist wirklich praktisch, man braucht keinen Teppich, keine Bettdecke, und abgenagte
     Hühnerknochen wirfst du einfach ins Tigermaul.«
    Die Dicke prustete los, die Dünne sah Jonas misstrauisch an. ›Jetzt oder nie‹, dachte Jonas und ging los.
    Er hatte weniger Glück als Lippe. Die beiden Mädchen sprangen von der Mauer und folgten ihm.
     
    Und so marschierten sie die Straße hinunter. Ein Junge mit verdrehter Nase, eine Torte auf der Hand balancierend, links und
     rechts eskortiert von zwei dunkelhaarigen Mädchen. Kein Revolverheld, ein Tortenheld, |76| der aufrecht der nächsten Schlacht entgegenschritt, begleitet von seinen Komplizinnen, den gefürchteten Kaugummihühnchen.
    »Wir brauchen keine Tiger«, kam es von links, von der Dünnen. »Wir haben nämlich zu Hause eine Herde Schafe – ist noch besser:
     geht als Teppich, Decke und Käse kannst du auch noch machen.«
    Lautes Prusten und Kichern folgte von rechts. Jonas verdrehte die Augen. Er wusste nicht, was schlimmer war: ein Mädchen,
     das auf alles eine Antwort wusste, oder eines, das über alles lachen musste. Er schwieg, setzte ein grimmiges Gesicht auf
     und ging, so schnell er konnte.
    »Wer seid ihr eigentlich, du und dein verrückter Freund?«, kam

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