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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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auch die alte Frau Ohm ihre Nägel lackiert hatte? In demselben Farbton, den der
     Schal aus ihrer Wohnung hatte?
    »Ihr seid zwei brave Buben«, hatte Tante Tiger geknurrt, als sie ihr den Schal gezeigt hatten. »Brav und freundlich, helft
     einer alten Frau, die in einer schlimmen Lage ist. Das riecht nach meiner Wohnung, meiner Wolle und nach mir, als ich noch
     ich war.« Klagende Maunzlaute waren durch die Betonröhre geschwebt, als Lippe ihr eigenhändig den Schal um den Hals geschlungen
     hatte. In diesem Moment hatte sich Jonas gefragt, ob Tiger weinen konnten.
    »Glotz mich nicht an.« Vera hatte den Kopf jetzt zu Jonas gedreht. Trotz des spärlichen Lichts konnte Jonas erkennen, dass
     ihre Augen gerötet waren.
Sie
hatte geweint. Geschah ihr recht! Trotzdem, gegen seinen Willen, tat sie Jonas leid. Das Unheimliche an Vera war, dass man
     nie wusste, was in ihr vorging.
    »Red endlich, ich brauch keine Kanalratte mit verkrüppelter Nase, die mir beim Nägellackieren zuschaut.«
    »Du sollst heute um elf zu Hause sein«, sagte Jonas langsam. »Und morgen fahren wir an einen See.«
    »Den ganzen Tag ans Wasser.« Vera grinste. »Die können mich mal.«
    Jetzt würde Jonas ihr die verkrüppelte Nase und die Petzerei heimzahlen. Die Situation war günstig. Wegen ihrer halblackierten
     Nägel musste Vera sitzen bleiben. »Wenn du nicht um elf zu Hause bist oder |87| nicht mitkommst morgen, bekommst du die nächsten drei Monate kein Geld. Nicht einen einzigen Cent.« Das war zwar gelogen,
     saß aber.
    »Ihr kotzt mich an!« Vera schrie nicht nur, sie kreischte.
    Kurz bevor Jonas die Tür zuzog, hörte er sie flüstern: »Erinnere mich bei Gelegenheit daran, dass ich dir noch eine pädagogische
     Maßnahme schulde – wäre doch schade, wenn ich’s vergesse.«
    Jonas stieß ein Schlangenzischen aus und schlug die Tür zu. Im Flur riss er sich die verhassten Wildlederschuhe von den Füßen
     und schleuderte sie unter die Garderobe. Er wollte diese Schuhe nicht und diese Schwester wollte er auch nicht!
    Zum Glück gab es Lippe. Und den Tiger.
     
    Das Letzte, woran er vor dem Einschlafen dachte, war der weit aufgesperrte Rachen mit den fürchterlichen Zähnen, manche so
     lang wie Messer. In diesen Schlund hatten er und Lippe alle möglichen Tropfen, Tabletten und Zäpfchen geschüttet, genauso
     wie Tante Tiger es wollte, hatten ihr dann die Decke in eine Nische der Röhre gelegt und ganz leise das Radio angemacht. Der
     Empfang war zwar miserabel, aber ohne Radio würde sie sich zu Tode fürchten, hatte Tante Tiger erklärt. Da war Jonas das Foto
     von Herrn Teichmann eingefallen, das er aus der Wohnung mitgenommen hatte. Er hatte es aus der Tasche des Wagens gezogen und
     aufs Radio gestellt.
    »Oh Gott!«, hatte Tante Tiger geraunt, und Jonas |88| war aufgefallen, wie schwer sie sich auf einmal wieder mit dem Sprechen tat. »Nimm das weg, ich ertrage es nicht.« Sie war
     auf die Decke gesunken und hatte den Kopf unter den mächtigen Pranken verborgen.
    Jonas hatte das Bild eingesteckt und leise gemurmelt: »Wir kommen wieder, Tante Tiger.«
    Jetzt stand das Foto neben seinem Bett. Ein dickes weißes Hündchen, das mit vor Schreck aufgerissenen Augen in den Blitz der
     Kamera starrte. ›Was ist bloß aus Herrn Teichmann geworden?‹, dachte Jonas, bevor er einschlief.

[ Menü ]
    |89| Der Duft der Kohlwurst
    Der Sonntagsausflug verlief wie immer. Seine Eltern zankten oder dösten in der Sonne, Vera sprach den ganzen Tag kein Wort
     und Jonas verbrachte die meiste Zeit im Wasser.
    Das einzig Bemerkenswerte an diesem Tag waren die drei Rettungswesten, die Jonas’ Vater mitgebracht hatte. Sie waren leuchtend
     rot und quer über den Rücken stand FEUERWEHR. Sie lagen eng um den Oberkörper, man konnte sogar eine weite Jacke darüberziehen.
     Wenn man dann aber an einer Kordel riss, strömte aus einer kleinen Pressluftflasche Luft in die Weste. Am aufregendsten war
     es, die Pressluftleine unter Wasser zu ziehen; blitzschnell füllte sich die Weste mit Luft und Jonas schoss wie ein Tischtennisball,
     den man unter Wasser gedrückt hat, an die Oberfläche. Dort ließ er sich treiben und sah in den gleißenden Himmel, der ohne
     eine einzige Wolke war.
     
    Am nächsten Tag nach der Schule verabredeten sich Jonas und Lippe für den Nachmittag. Sie wollten sich an der Baugrube treffen.
     Jonas hatte Mühe, die Verabredung einzuhalten. Die Hausaufgaben dauerten viel länger als sonst; Jonas kam nicht voran, konnte
    

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