Tiger Unter Der Stadt
sich nicht richtig konzentrieren. Als er endlich fertig war, hatte er solchen Hunger, dass er in die Küche ging |90| und sich ein paar kalte Kartoffeln in den Mund stopfte. In dem Topf mit dem Rest Grünkohl entdeckte er noch eine Wurst. ›Für
später‹, dachte er, wickelte sie in ein Stück Zeitungspapier und steckte sie ein.
Es war halb sechs, als er die Baugrube erreichte. Lippe lag am Rand der Grube auf dem Bauch. »Schau mal«, sagte er, als sich
Jonas neben ihn fallen ließ. »Da ist noch jemand.«
Die Sonne stand schon so weit im Westen, dass fast die ganze Grube im Schatten lag. Nur ein kleiner Fleck des Grubengrunds
lag noch in der Sonne. Diese Stelle befand sich ein kleines Stück neben dem Bretterverschlag, der den Eingang zu Tante Tigers
Abwasserröhre verbarg. In diesem Sonnenfleck stand jetzt der Schlitten, über den sich Jonas vor zwei Tagen gewundert hatte.
Und auf dem Schlitten saß ein Mann und rauchte.
Es musste einer der Bauarbeiter sein. Seine Kleider waren staubig, das Gesicht wurde von einer Hutkrempe verborgen. Nur der
Mund mit der Zigarette war zu erkennen.
»So sitzt der hier schon seit einer halben Stunde«, flüsterte Lippe. »Alle anderen Bauarbeiter sind längst gegangen.«
»Mist«, sagte Jonas. »Wenn Tante Tiger jetzt ein Geräusch macht, hört der das.«
Als nach einer weiteren Viertelstunde auch der Schlitten im Schatten lag, stand der Mann auf und verließ die Grube. Als er
die Kiesrampe heraufkam, sahen sie sein Gesicht. Es war breit, faltig und hatte die |91| Farbe dunklen Leders. Die Augen waren schmale, schräg stehende Schlitze. Ein eigenartiger Ausdruck lag auf diesem Gesicht.
Ein trauriges Lächeln. Er erinnerte Jonas an den Helden aus einem Kung-Fu-Film, den er einmal gesehen hatte. Allerdings war
der Bauarbeiter viel älter, älter noch als Jonas’ Vater. Ein Netz aus Falten hatte sich in sein Gesicht gegraben. Trotzdem
war sein Gang weich und leise.
»Komischer Kauz«, sagte Lippe, als der Mann am Ende der Straße verschwunden war. »Setzt sich mitten im Sommer auf einen Schlitten.
Der erinnert mich an meinen Onkel, ein Fischer, der schon lange nicht mehr zum Fischen fährt, weil der See immer mehr schrumpft
und vertrocknet. Jeden Tag, sagt meine Tante, wirft er ein Netz aus dem Fenster und holt es abends wieder ein. Und alles,
was er dabei fängt, sind welke Blätter.«
»Komm jetzt«, drängelte Jonas. »Die Katze wartet.«
Lippe sah ihn misstrauisch an. »Glaubst du, sie hat schon wieder Hunger?«
Nach dem Tageslicht erschien ihnen das Dämmerlicht in der Röhre wie finstere Nacht. Lippe hatte diesmal an eine Taschenlampe
gedacht, die Stirnlampe, die er bei ihrem Ausflug in die Kanalisation getragen hatte. Jonas fröstelte. Sie machten ein paar
vorsichtige Schritte, dann rief Jonas: »Wir sind’s, Tante Tiger.«
Keine Antwort. Er rief noch einmal. Es blieb still.
Langsam gingen sie weiter. Die Decke, auf der sie Tante Tiger zurückgelassen hatten, war leer. Das Omawägelchen |92| stand noch da, daneben die blank geleckte Tortenplatte. In einer Ecke lag der Radioapparat; er war völlig zertrümmert. Eine
Gänsehaut kroch Jonas den Nacken hinauf.
»Die haben sie entdeckt«, flüsterte Lippe. »Sie musste abhauen.«
»Aber wohin?« Jonas spürte, wie ihm etwas den Magen zusammendrückte. Ein eigenartiges Gefühl. Angst und gleichzeitig Schmerz.
Wie bei einem Abschied. »Wir müssen sie suchen!« Jonas’ Stimme klang rau und war ihm selbst fremd.
Sie gingen tiefer in die Röhre hinein. Ohne Lampe hätten sie schon längst umkehren müssen, so finster war es. Da tauchte am
Rand des Lichtkegels eine dunkel gestreifte Masse auf. Jonas blieb stehen. Sein Mund war trocken, er brachte kein Wort heraus.
Seine Sorge war wie weggeblasen. Dort lag ein riesiges Raubtier. Was, wenn der Tiger wieder Tiger war? Vielleicht war er auch
nie verschwunden, sondern hatte sich bloß zurückgezogen in die Schwanzspitze, die jetzt leicht hin und her zuckte. Jonas erinnerte
sich noch genau an das Gefühl, als der Tiger zum ersten Mal seinen Blick auf ihn gerichtet hatte: als ob man aus feuchtem
Beton wäre, der langsam hart wird.
Genau dieses Gefühl lähmte ihn jetzt wieder, während sich der Tiger auf die Vorderpfoten stemmte und langsam den Kopf wendete.
Seine Augen funkelten grünlich.
»Es ist fürchterlich«, kratzte und grollte es aus der Tigerkehle. »FÜRCHTERLICH!«
|93| Tante Tiger blickte drein, als ob ihr
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