Tiger Unter Der Stadt
jemand lange und kräftig auf den Schwanz getreten wäre. Verstärkt wurde dieser jämmerliche
Eindruck durch den knallrosa Schal, den sie noch immer um den Hals geschlungen hatte.
»Dieser Körper ist eine Strafe«, grollte sie weiter. »Er reagiert überhaupt nicht auf meine Medikamente. Ich habe Durchfall
und Bauchweh, an Schlaf ist überhaupt nicht zu denken. Und keiner war da, der mir geholfen hätte …«
Sie fauchte beleidigt in Lippes und Jonas’ Richtung. »Dabei muss ich unbedingt meine Medikamente nehmen, jeden Tag. Das versteht
ihr nicht, dazu seid ihr zu jung und zu gesund. Das Gehirn, der Blutdruck, die Knochen, die Verdauung – alles alt und morsch.
Da helfen nur Tabletten, Salben und das ganze Zeug. Aber mit diesen verdammten Pratzen kann man ja nichts anfassen. Nichts.
Nicht einmal das Radio kann man leiser drehen.«
Tante Tigers Augen wurden etwas schmaler, ihre Lefzen zogen sich nach oben und entblößten ihre Fangzähne. »Diese dauernden
Geräusche … Überall knarzt, knistert und knackt es … Manchmal höre ich sogar die Regenwürmer schnarchen. Diese Ohren sind
schrecklich.« Sie drehte die Ohren in verschiedene Richtungen. »Sie machen mir Angst. Überall ist Bewegung, kriecht und krabbelt
es. Und nirgends hab ich eine Tür, die ich absperren kann … Das Glucksen des großen Kanals, hört ihr es?«
Jonas und Lippe schüttelten die Köpfe.
|94| »Ich höre es. Ständig … Und dann noch das Geplapper im Radio. Ich hab es nicht mehr ausgehalten und wollte das Ding abstellen.
Da ist es auseinandergefallen. Aber das Schlimmste ist die Baustelle. Die hämmern, schlagen, stoßen, brüllen und poltern den
lieben langen Tag. Mir war, als müsse mein Kopf platzen. Ich halte das nicht mehr aus.« Tante Tigers Stimme war immer dünner
und krächzender geworden, jetzt erstarb sie ganz.
»Wir holen sie wieder raus aus dem Tiger«, versprach Jonas.
»Wir müssen nur genau wissen, was vor dem Klärwerk passiert ist«, sagte Lippe, der sich von hinten über Jonas beugte. Die
abstehenden Haare kitzelten Jonas an der Wange. »Können Sie sich nicht erinnern, was der Tiger getan hat? Oder war da noch
jemand?«
»Aaaarrrgh!«, jammerte Tante Tiger. »Mir tut der Bauch weh. So grimmiges Bauchweh habe ich schon lange nicht mehr gehabt.
Und ich habe keine einzige Tablette mehr.«
»Wieso?«, fragte Jonas. »Das war doch ein ganzer Sack voll.«
»Ich habe doch gesagt, dass ich kein Auge zutun konnte, und da hab ich am nächsten Abend alle Tabletten auf einmal gefressen
… mit Verpackung.«
»So bringen sich manche um«, flüsterte Lippe.
»Haben Sie sonst noch was gegessen?«, fragte Jonas, der langsam das Gefühl hatte, dass man Tante Tiger nicht helfen konnte,
weil sie nicht wollte, dass man ihr half.
|95| »Nichts«, knurrte der Tiger. »Das bisschen Torte und die paar Kartoffeln hab ich alle am ersten Abend gegessen. Ich habe aber
auch keinen Hunger, sondern Bauchweh.« Schwerfällig wendete Tante Tiger in der Röhre und stand jetzt mit hängendem Kopf vor
den beiden Jungen. Plötzlich hob sie den Kopf und schnupperte. Zwei tapsige Schritte und der Tiger schnüffelte an Jonas’ Hose:
»Was ist das? Das duftet ja verführerisch.«
»Eine Kohlwurst«, sagte Jonas und zog die in Papier gewickelte Wurst aus seiner Tasche. »Möchten Sie?«
Mit einem Schnappen war die Wurst verschwunden. Samt Papier.
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|96| Schweinskopf, Ziegenbock und Schlittenfahrer
Für Jonas begann eine eigentümliche Zeit. Ein Doppelleben. Bis zum Nachmittag war er ein ganz normaler Junge. Er ging zur
Schule, machte Hausaufgaben, allerdings zügiger als früher. Manchmal musste er noch für seine Mutter etwas besorgen, seinem
Vater zur Hand gehen oder sein Zimmer aufräumen. Aber danach begann sein zweites Leben, von dem, außer Lippe, niemand etwas
wusste. Das Leben mit Tante Tiger.
Meistens begann es damit, dass er sich mit Lippe am geborstenen Stein traf. Sie saßen dann auf der gesprungenen Tischtennisplatte
und besprachen, wer was wann erledigen würde. Jeden zweiten Tag musste einer von ihnen in die Keunerstraße und dort die Blumen
gießen; Tante Tiger erkundigte sich fast täglich nach ihren Pflanzen. Noch häufiger, nämlich jeden Tag, hatte sie Hunger.
Seit sie die Kohlwurst verschlungen hatte, war Tante Tiger klar geworden, dass ihr Fleisch wieder ausgezeichnet schmeckte.
Anfangs aß sie noch wenig und es musste auf irgendeine Art zubereitet sein:
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