Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
Vom Netzwerk:
und deswegen drückt der sich immer am Hintereingang rum. |100| Ich weiß überhaupt nicht, wann der mal arbeitet. Jedenfalls ist Igor als Lehrling in der Fleischabteilung, er ist siebzehn
     oder so, und Russe, wie ich. Du müsstest ihn mal sehen. Er hat ganz kleine Augen, so klein, dass du auf keinen Fall erkennen
     kannst, was er für eine Augenfarbe hat, und ein rundes rosiges Gesicht. Deswegen wird er Schweinskopf genannt – und weil er
     mit Schweinsköpfen arbeitet. Klar, oder?« Jonas nickte, war sich aber nicht sicher, ob sich Lippe diesen Igor Schweinskopf
     nicht einfach ausgedacht hatte. »Dann hab ich ihn gefragt, ob er mir nicht billiges Fleisch als Futter für Tiere verkaufen
     kann, natürlich auf Russisch, verstehst du, das kommt besser bei solchen Geschäften; erstens kann dich keiner belauschen …«
    »Außer deiner Mutter«, warf Jonas ein.
    »Und zweitens schafft das Vertrauen. Und meine Mutter sitzt entweder an der Kasse oder erledigt irgendwelchen Supermarktkram.
     Die hat mit dem Fleisch nichts zu tun. Das ist eine eigene Abteilung und rauchen tut sie auch nicht. Schau nicht so, ich pass
     schon auf. Jedenfalls hat Igor erst mal nichts gesagt und wahrscheinlich überlegt, ob ich es ernst meine. Seine Augen sind
     wirklich so klein, da kannst du nichts erkennen, verstehst du, kein Schimmer, was in dem vorgeht. Aber dann hat er mir mit
     seiner Riesenpranke auf die Schulter gehauen, sodass ich fast zusammengebrochen wäre, und gesagt: ›In Ordnung, Alterchen,
     wir machen ein klitzekleines Geschäft miteinander.‹ Er hat gesagt, er kann uns jeden Abend das |101| Fleisch geben, bei dem am Tag vorher das Verfallsdatum abgelaufen ist. ›Ist gutes Fleisch, müssen eure Tierchen nur bald fressen‹,
     hat er gesagt. Und wir müssen nur ein Viertel von dem bezahlen, was es im Supermarkt gekostet hat. Was sagst du, Nase, ist
     doch ein prächtiger kleiner Handel, den ich da eingefädelt habe.«
    »Und er wollte nicht wissen, was wir damit machen?«, fragte Jonas, dem die Sache noch nicht ganz geheuer war.
    »Nein«, sagte Lippe und grinste. »Er wollte bloß wissen, ob ich auch wirklich Geld habe. Ist eben ein Geschäftsmann. Ich hab
     aber noch jemanden getroffen.« Er spitzte die Lippen und kniff ein Auge zusammen. »Wie ich gerade weg war von Igor, kommt
     mir die Vampirviper entgegen. Hat ganz selig vor sich hin gelächelt – wahrscheinlich hat sie gerade jemanden ausgesaugt. Ich
     bin mir nicht mal sicher, ob mich dein Schwesterchen erkannt hat.«
    »Halbschwester! Und du, was hast du gemacht?«
    »Sie nicht beachtet. Hat auch genützt – ohne ein Wort ist sie an mir vorbeigerauscht zum Supermarkt. Als ich ihr dann noch
     leise hinterhergezischelt hab, hat sie sich nicht mal umgedreht.«
    »Glück gehabt«, sagte Jonas. Sie mussten auf der Hut sein, auf keinen Fall durfte Vera von dem Fleisch erfahren.
    Das Futterproblem war gelöst, aber das war nur eines von vielen Problemen.
     
    |102| Die nächste Aufgabe, der sich Lippe und Jonas in ihrem Doppelleben stellen mussten, war noch schwieriger: Wie sollten sie
     die alte Rosa aus dem Tigerkörper befreien?
    »Du kannst die Rübe nicht an den Wurzeln aus der Erde ziehen. Du musst sie am Schopf packen«, meinte Lippe.
    Das war wieder so eine russische Großmutterweisheit. Lippe meinte damit, dass sie erst einmal herausfinden mussten, wie die
     alte Rosa in den Tiger hineingeraten war, bevor sie sich überlegen konnten, wie sie wieder herauskäme.
    Nur gab es diesmal niemanden, der ihnen helfen konnte. Tante Tiger schwieg oder sagte, dass sie sich nicht erinnern könne,
     und Herr Teichmann, der einzige Zeuge, war spurlos verschwunden und außerdem ein Hund, in dem wahrscheinlich nur ein Hund
     steckte und der deshalb nicht sprechen konnte.
    Blieb also nur der Ort, an dem es passiert war: das Klärwerk.
    Sie fuhren die Baalstraße hinaus, die in der Nähe der Keunerstraße begann und schnurgerade aus der Siedlung zum Klärwerk führte.
     Dort ließen sie die Räder ins Gras fallen und gingen langsam den Zaun entlang. Er war aus engen Metallstäben und doppelt so
     hoch wie Jonas. Nirgends fanden sie ein Loch, eine Lücke oder auch nur eine Delle. Auch keine Kampfspuren auf der Wiese vor
     dem Zaun.
    Das Einzige, was an einen Tiger denken ließ, waren die Pflanzen, die hinter dem Zaun ein undurchdringliches |103| Dickicht bildeten. Fremdartige Bäume mit riesigen dunkelgrünen Blättern, dazwischen Schlinggewächse mit Blüten in grellen
    

Weitere Kostenlose Bücher