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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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Farben, die einen betäubenden Duft verströmten. Ein Dschungel.
    Und während Jonas’ Augen über diese grüne Wand glitten, erwartete er fast, ein zotteliges gestreiftes Haupt zu sehen, das
     sich durch die Blätter schob. Aber nichts geschah.
    Die einzige Unterbrechung in diesem Dickicht war das Tor. Es war aus grauem Blech, sodass sie nicht hindurchsehen konnten.
     Neben dem Tor hing ein Schild, auf dem stand:
     
    KLÄRWERK 3
    Direktor der Anlage: Funakis
     
    »Komischer Name.« Lippe starrte auf das Schild und zupfte an seiner Unterlippe.
    »Klingt griechisch«, sagte Jonas.
    »Seit wann haben Griechen keinen Vornamen?«
    »Vielleicht ist es ja der Vorname.«
    »Dann fehlt der Nachname.«
    »Vielleicht hat er nur einen Namen. Komm, lass uns verschwinden.« Der Ort war Jonas nicht geheuer. Die seltsamen Pflanzen,
     die überhaupt nicht in die Siedlung passten, der Geruch, der hier eine eigene stechende Note hatte, und dazu noch die Vorstellung,
     dass hier Menschen in Tieren verschwanden.
    »Lass uns wenigstens mal schauen«, sagte Lippe und machte mit den Händen das Zeichen für Räuberleiter. |104| Jonas sah seinen Freund verdutzt an: »Was ist los mit dir? Hast du keine Angst, dass sie uns erwischen? Oder dass ein zweiter
     Tiger über den Zaun springt?«
    »Nein, hab ich nicht.« Lippe wurde zappelig. »Jetzt mach schon!«
    Und plötzlich verstand Jonas. Lippes Neugier war so groß, dass für seine Ängste kein Platz mehr war. ›Guter Trick‹, dachte
     Jonas, und grinsend lehnte er sich mit dem Rücken an das Tor. Lippe stieg in seine gefalteten Hände und von dort auf Jonas’
     Schultern.
    »Und?«, fragte Jonas. »Was siehst du?«
    »Nichts Besonderes. Vier große Becken und dahinter ein Gebäude.«
    »Dann komm wieder runter.«
    »Warte, da bewegt sich was …«
     
    Als Lippe endlich von Jonas’ Schultern sprang, sah er etwas verwirrt aus.
    »Und?«, fragte Jonas.
    Lippe zögerte. »Ich glaube, da drin gibt es nicht nur Tiger, sondern auch dressierte Ziegen. Also, so genau konnte ich das
     nicht erkennen, weil es so weit weg war – aber da ist etwas Großes zwischen so Pflanzenwedeln herumgesprungen. Es sah aus
     wie eine Ziege auf zwei Beinen. Nur größer, also wahrscheinlich ein riesiger Ziegenbock. Und er hatte auch was Blaues an und
     … ich glaube, er hat getanzt.«
    »Ein tanzender Ziegenbock?« Jonas runzelte die Stirn. »Bist du sicher, dass es kein Hund war?«
    »Mensch, Nase, ich bin doch nicht blöd. So können |105| Hunde nicht springen. Wenn es keine Ziege war, dann war es ein Mensch. Aber Menschen können so auch nicht springen. Weißt
     du, was ich glaube? Der Ziegenbock war als lebendes Futter für den Tiger gedacht, und seit der Tiger verschwunden ist, springt
     die Ziege vor Freude im Dreieck.«
    »Auf zwei Beinen?« Jonas schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich war es nur ein Eichhörnchen gewesen, und Lippes Phantasie ging
     wieder mal mit ihm durch. Gerade wollte er ›Schwachsinn!‹ sagen, da wurde ihm bewusst, was das für ein Geruch war, der hier
     neben dem Gestank in der Luft lag: Ziege. Es roch nach Ziege.
    »Lass uns endlich verschwinden«, murmelte Jonas und machte sich auf den Weg zu ihren Fahrrädern.
     
    Während sie die Baalstraße entlangrollten, wurde Jonas klar, dass sie der Lösung keinen Schritt näher gekommen waren. Im Gegenteil.
     Eine tanzende blaue Ziege in einem Klärwerk, das von einem Dschungel umgeben war. Was sollte das bedeuten? War diese Ziege,
     wenn da überhaupt eine Ziege gewesen war, auch nur scheinbar eine Ziege? Und wenn, wer steckte dann in der Ziege? War es wie
     bei Tante Tiger und wie war es überhaupt bei Tante Tiger? Sie würden wiederkommen müssen. Aber dann musste der Tiger mit!
     
    Ein weiteres Problem war der Schlittenfahrer.
    So nannten sie den Bauarbeiter, der auf dem Schlitten gesessen hatte. Jeden Abend saß er dort in der Sonne auf seinem Schlitten
     und rauchte. Und weil die |106| Sonne jeden Abend ein bisschen früher unterging, bewegte sich der Schlitten jeden Abend ein klitzekleines Stück näher auf
     den Eingang zu Tante Tigers Röhre zu. Ein Platzregen wäre vielleicht das Einzige gewesen, was den Schlittenfahrer vertrieben
     hätte. Aber nach Regen sah es nicht aus.
    Nur die Hitze nahm jeden Tag zu.
    Und so sahen sie Abend für Abend den Rauch unter dem Hut hervorquellen, bis der Schlittenfahrer sich erhob und mit weichem
     Gang und traurigem Lächeln die Grube verließ.
    Allmählich gewöhnten sie sich an den

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