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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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Mann. Jonas mochte ihn sogar, er hätte allerdings nicht sagen können, was ihm an dem
     Schlittenfahrer so sympathisch war.
    Sobald er verschwunden war, schlichen sich Jonas und Lippe zu dem Bretterverschlag und verschwanden in der Abwasserröhre.
     Sie fanden Tante Tiger meist in ihrer Nische dösend. Sie gähnte, zupfte sich die Enden des rosa Schals aus den Ohren und sagte:
     »Ach, hab ich schon wieder einen Hunger. Das ist ja furchtbar.«
    Jeden Abend bekam Tante Tiger jetzt Fleisch: Hackfleisch, Koteletts, Hühnerbrüste, Schweinebäuche, Hüftsteaks, Rinderzungen.
     Tante Tiger verschlang alles mit großer Gier. Am liebsten mochte sie Rinderleber. Bis auf die Torten aus der Tiefkühltruhe,
     die Jonas und Lippe fast täglich mitbrachten, war alles, was sie fraß, roh und blutig.
    Und Tante Tiger begann sich zu verändern.

[ Menü ]
    |107| Wie Schnee und Leder
    Am Anfang waren es Kleinigkeiten.
    Jonas fiel auf, dass der Tiger immer weniger herumstand. Entweder lag er auf dem Bauch, mit unter den Körper gezogenen Pranken,
     oder auf der Seite, alle viere von sich gestreckt.
    Wenn Jonas und Lippe mit der Fleischtüte erschienen, setzte sich Tante Tiger auf ihre Hinterpfoten. Ganz selten erhob sie
     sich vollständig. Aber wenn sie es tat, stand sie nicht mehr steif und bewegungslos wie ein altes Pferd, sondern weich und
     geduckt. Alle ihre Bewegungen wurden geschmeidiger. Das Wenden des Kopfes, wenn sie sich umsah, das Heben der Pranke, um ein
     Stück Fleisch zu sich heranzuziehen, sogar das Räkeln und Strecken kamen Jonas flüssiger vor.
    Nur der Schwanz machte Schwierigkeiten. Manchmal hing er von ihrem Rücken wie ein angeklebter Strick oder Tante Tiger schwang
     ihn ohne Grund durch die Luft, sodass Jonas und Lippe sich ducken mussten, um nicht getroffen zu werden; denn das war ungefähr
     so schmerzhaft wie ein Schlag mit dem Gartenschlauch. Wenn sich Tante Tiger einmal selbst traf oder auch nur die Schwanzspitze
     durch die Luft zischen sah, schrie sie: »Hilfe, ein wildes Vieh!«, und zuckte zurück.
    Aber nicht nur ihre Bewegungen veränderten sich. |108| Sie jammerte auch weniger. Anfangs hatte sie jeden Tag geklagt. Über Schmerzen, die Dunkelheit, den Gestank, den Lärm und
     vor allem über den unmöglichen Körper, in dem sie steckte: »Vier Riesenpratzen und keine einzige Hand. Nicht einmal die Nase
     kann ich mir putzen. Auf allen vieren muss ich kriechen, wie ein Kleinkind …«
    Aber diese Klagen wurden weniger. Zuerst verschwanden die Knie- und Gelenkschmerzen, dann die Kreislaufbeschwerden und als
     Letztes der Kopfschmerz. Medikamente erwähnte sie überhaupt nicht mehr. Gegen den Lärm stopfte sie sich die Enden ihres rosa
     Schals in die Ohren. Als Jonas einmal fragte, wie ihr das mit ihren riesigen Pfoten gelang, sagte sie: »Mit Geduld und Spucke.«
     Die Hände schienen ihr kaum mehr zu fehlen.
    Auch ihr Geruch hatte sich verändert. Scharf und doch leicht süßlich schlug es einem jetzt entgegen. Und die Angst vor dem
     Tiger, die in Jonas noch immer wie ein kleines Flämmchen flackerte, loderte jedes Mal auf, wenn er diese Dunstglocke aus Raubtiergestank
     betrat. Wenn der Tiger ihn dann noch mit seinen gelben Augen fixierte, musste Jonas anfangen zu sprechen, um nicht in Panik
     zu geraten.
     
    Als Jonas Tante Tiger einmal fragte, wo sie aufs Klo ginge, knurrte sie: »So etwas fragt man eine alte Dame nicht«, fuhr aber
     nach einer Pause fort: »Ich erledige meine Geschäfte in den großen Abwasserkanal, aus dem ihr mich gefischt habt.« Es folgte
     eine noch längere |109| Pause. »Wisst ihr, so alte Schachteln wie ich machen manchmal ins Bett, wie die kleinen Kinder. Aber seit zwei Tagen ist das
     auch vorbei.« Sie lachte knurrend. »Ich bin jetzt stubenrein.«
    »So alt sehen Sie gar nicht aus«, sagte Lippe. Er hatte noch mehr Respekt vor dem Tiger als Jonas und sagte selten etwas,
     wenn sie bei Tante Tiger waren.
    »Wirklich?« Der Tiger räkelte sich. »Trotzdem, unter diesem prächtigen Pelz bin ich uralt. Ihr seht es nur nicht. Alte Gedanken,
     alte Befürchtungen, alte Erinnerungen. Die grauen Haare und die Haut, die einem in Falten von den Knochen hängt, sind gar
     nicht mal das Schlimmste am Alter … Denkt ihr oft an früher?«, fragte sie plötzlich.
    Jonas und Lippe schüttelten den Kopf. Jonas überlegte, wann das sein sollte:
früher
. Letzte Woche? Oder noch früher? Bestimmt war
früher
eine Zeit, zu der er noch gar nicht auf der Welt gewesen war.
    »Ich

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