Tiger Unter Der Stadt
dass weder
Werkzeug noch Müll herumlagen. So aufgeräumt war die Baustelle noch nie gewesen. Ein beklemmendes Gefühl beschlich ihn – wie
beim Betreten eines unbekannten Gebäudes.
Still und stickig war es am Grund der Grube. Angespannt zerrte Jonas das Wägelchen mit dem Fleisch über den festgestampften
Kiesboden. Er schwitzte, |143| spürte, wie das T-Shirt an Rücken und Brust festklebte. Die Türme aus Metallgittern zwangen ihn zu einem Zickzackkurs, fast
verlor er die Orientierung. Endlich sah er die grüne Plastikplane, und zum ersten Mal freute er sich auf die dunkle kühle
Röhre und den scharfen Raubtiergeruch.
»Mein kleiner Scheißer.«
Jonas erkannte die Stimme sofort.
In einer Gasse zwischen den schwarzen Gittertürmen stand Vera. Jetzt setzte sie sich langsam in Bewegung. Trotz der Hitze
trug sie eine schwarze Kutte, die ihr um die Knöchel schlug. Wie Gewitterwolken hingen schwarze Haarzotteln um das bleiche
Gesicht, die Lippen leuchteten dunkelgrün. ›Wie Gift‹, dachte Jonas.
Vera blieb so dicht vor Jonas stehen, dass ihr grünglänzender Mund direkt vor seinen Augen tanzte: »Ich will wissen, was du
mit dem Fleisch machst!«
Woher wusste sie, dass er Fleisch in dem Wagen hatte? Von allen Menschen, die ihm hier begegnen konnten, war Vera die Allerschlimmste.
»Geht dich nichts an«, quetschte Jonas heraus.
»Denkst du. Ich bin aber deine große Schwester und soll ein Auge auf dich haben. Hat unser Papa«, bei diesem Wort verzog sich
hämisch der grüne Mund vor Jonas’ Augen, »erst gestern gesagt. Ich mach mir Sorgen um den Jungen«, äffte sie jetzt den Tonfall
von Jonas’ Vater nach. »Er erzählt so wenig in letzter Zeit.« Vera machte eine kurze Pause und plötzlich – Jonas war so gebannt
von dem grünen Mund, dass er |144| die Hand zu spät sah – packte sie ihn an den Haaren und zog seinen Kopf nach hinten. Der Schmerz ließ ihn aufstöhnen. »Ich
finde, dass Papa recht hat. Du kommst jeden Tag eine Sekunde vor den Nachrichten oder sogar später nach Hause, und keiner
weiß, was du treibst.«
»Na und?« Jonas presste seine Worte zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Kann dir doch egal sein.«
»Ist es mir auch.« Der Griff in Jonas’ Haaren wurde noch fester und der Schmerz zuckte über seinen Hinterkopf. »Ist mir sogar
scheißegal. Von mir aus kannst du mit deinem Kamelmaulfreund in der Kloake ersaufen, wenn ich euch dann nicht suchen muss.
Aber genau das muss ich immer, weil unser Vater ein Krüppel ist und deine Mutter eine dumme Kuh.«
Jonas versuchte nach Vera zu treten, aber ein kurzer Ruck ihrer Hand riss ihn fast zu Boden.
»Also, was macht ihr mit dem Fleisch? Ich will es wissen!« Vera zog Jonas an den Haaren so weit nach oben, dass er ihr in
die Augen sehen musste. Kalte Wut lag in ihrem Blick. Sie hatte Angst, schoss es Jonas durch den Kopf, Angst, er und Lippe
könnten mit dem Fleisch etwas anstellen, in das sie hineingezogen würde. Was sollte er ihr erzählen? Was macht man mit einem
Handwagen voll Fleisch in einer Baustelle?
»Wir wollten hier grillen«, brachte er schließlich vor.
»Jeden Tag? Seit fast zwei Wochen?«
Jonas starrte seine Schwester an. Woher wusste sie das schon wieder?
|145| »Und woher habt ihr das Geld? Wenn du mich anlügst …« Vera schob Jonas’ Kopf von sich weg, holte mit der freien Hand aus …
Jonas riss den Kopf zur Seite und biss zu. Er erwischte Vera am Handgelenk. Sie schrie auf und ließ los.
Jonas rannte.
»Du bist genauso ein Feigling wie dein Vater!«, hörte er Vera hinter sich brüllen.
Jonas blieb stehen und drehte sich um. »Du bist feige! Traust dich nicht zu deiner Mutter zurück, obwohl es dir bei uns nicht
gefällt. Hau doch wieder ab!«
Vera stand noch immer an der Stelle, an der Jonas ihr entwischt war. Alles an ihr hing herunter, der Kopf, die Arme, der Mantel.
Fast hätte man sie für eine Vogelscheuche halten können, die die Gittermatten und Eisenstangen bewachen sollte.
»Und mein Vater ist kein Feigling!« Jonas kämpfte mit den Tränen. »Er hat Menschen vor dem Verbrennen gerettet und dabei ist
sein Bein draufgegangen. Das würdest du dich nie trauen, weil dir andere Menschen egal sind.«
»Ihm auch«, sagte Vera, ohne sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. »Er hat uns sitzen lassen, da war ich halb so alt
wie du. Manchmal hat er ein paar Kröten überwiesen, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, und wenn ich nach ihm
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