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Tiger Unter Der Stadt

Titel: Tiger Unter Der Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kilian Leypold
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ein Büschel Gras verschlingt …«
    Tante Tiger stieß einen langgezogenen heulenden Schrei aus. Ein unmenschlicher Laut. Danach sackte sie in sich zusammen. Nicht
     einmal ihre Schwanzspitze zuckte.
    »Der kleine Hund war ein großer Freund«, brummte Ulla und legte seine Hand auf Tante Tigers Nacken. Da war sie wieder: Ullas
     Kraft. Und diese Kraft lag nicht in seinen Fäusten, sondern in seinem Herzen. ›Wie bei Muhammed Ali‹, schoss es Jonas durch
     den Kopf, und er begriff, dass große Kämpfer für ihr großes Herz geliebt werden und nicht für die Kunst ihrer Schläge.
    »Der mächtige Moment bricht an«, fuhr Funakis fort, »als die alte Frau und der Tiger sich gegenüberstehen. Der Tiger brüllt,
     die Alte schreit. Lange und immer länger. Und es geschieht, was sehr selten geschieht: Sie brüllen sich die Seele aus dem
     Leib. Eine uralte Technik, die heute keiner mehr beherrscht. Und es ist gefährlich. Denn was, wenn die herausgeschrieenen
     Seelchen von einem mutwilligen Luftgeist gepackt und entführt werden?«
    Jonas starrte auf die breiten roten Lippen, die aus den Farnwedeln heraus zu ihnen sprachen. Gleichzeitig sah er vor seinem
     inneren Auge die alte Rosa und den Tiger: Mit aufgesperrten Mündern stehen sie sich gegenüber, über ihren Köpfen wirbeln zwei
     radiergummigroße |237| Gespenster mit tiefblauen Augen durch die Luft. Und diese Augen sind vor Schreck weit aufgerissen …
    Dann hörte Jonas wieder Funakis: »Zum Glück bin ich in der Nähe. Ich drück meine Quetsche und entlocke ihr einen wilden wundervollen
     Laut. Die Seelen bekommen einen solchen Schreck, dass sie einen Riesenhüpfer zurück machen. Nur verwirrt von der frischen
     Luft, dem Wind und dem Duft aus meinem Garten, schlüpft die Tigerseele in den Menschen, und die Menschenseele in den Tiger.
     Die Sonne sinkt, die Zeit verrinnt und beide sitzen fest … Hops!« Mit einem einzigen Satz sprang Funakis auf die Füße und
     lachte schallend.
    Jonas stand vor Staunen der Mund offen. Warum redete Funakis so, als ob das alles jetzt gerade passieren würde? Hatte er sich
     das ausgedacht oder war es die Wahrheit? Meinte er es gut mit ihnen oder schlecht? Und wer war er? Fragen, die Jonas’ Kopf
     wie lästige Fliegen umschwirrten. Bevor er aber auch nur versuchen konnte, darüber nachzudenken, spürte er, wie seine weiche
     Lehne in Bewegung geriet. Tante Tiger erhob sich. Sie starrte Funakis an und knurrte: »Ich habe einen fürchterlichen Hunger
     …«
    Funakis’ Gesicht begann zu strahlen. »Ja?«, rief er. »Das trifft sich. Ich auch!« Mit einem Sprung stand er neben dem Tiger,
     bückte sich, schob seinen Nacken und die Schultern unter den massigen Leib und richtete sich auf.
    Tante Tiger war so verdattert, dass sie bewegungslos |238| alles hängen ließ. Wie ein großer Sack hing sie über den Schultern. Plötzlich begann sie zu zappeln und zu fauchen. »Hände
     weg, du Wüstling! Hammel! Ziegenbock! Lass mich sofort runter!« Sie strampelte, wand sich und schimpfte, während Funakis lachend
     mit ihr davonstolzierte.
    »Das geht nicht«, stammelte Lippe. »Die Tante ist ein ausgewachsener Tiger, die können dreihundert Kilo wiegen. Das kann kein
     Mensch hochheben. Das geht nicht.«
    »Und was macht er mit ihr?«, flüsterte Jonas.
    »Funakis ist der stärkste Mann, den ich kenne«, sagte Ulla und erhob sich von seinem Schlitten. »Er tut, was er will. Aber
     er weiß nicht, was er will, bis er es tut. Ein Mann wie der Sturm. Stark und unberechenbar. Ich schaue nach der Tante.« Langsam
     und lautlos verschmolz Ulla mit den Schatten und der Dunkelheit.
     
    Es war, als sei Jonas aus einem Traum erwacht. Er sah auf die Stelle, an der Ulla um das langgestreckte Gebäude gebogen war,
     er sah die Fackel, den Farn, den Mond. Er sah Lippe, der neben ihm stand. Sein Gesicht war wie ein Spiegel, Jonas erkannte
     darin seine eigenen Gefühle: Verwirrung, Entsetzen und Erleichterung.
    Wortlos setzten sie sich auf Ullas Schlitten. Jonas sog die Luft durch die Nase, roch den süßen fremden Blütenduft, die faulige
     Note des Klärwerks und den Tiergeruch von Funakis. »Also ich hab mir das Klärwerk |239| anders vorgestellt«, sagte er müde. »Mehr Technik und weniger Verrückte.«
    »Glaubst du, Funakis ist durchgeknallt?«, fragte Lippe.
    »Ich weiß nicht. Wenn er nicht so groß wäre, würde ich sagen, er ist nicht verrückt, sondern ein sprechendes Schaf.«
    »Oder eine tanzende Ziege.«
    »Hast du gesehen, wie

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