Tiger Unter Der Stadt
Quark essen.«
»Kann die alte Frau gut riechen und hören?«, fragte jetzt Ulla.
»Erbärmlich«, sagte Tante Tiger. »Ich hab ja kaum gerochen, wenn mir in der Küche die Milch angebrannt ist, und zum Radiohören
musste ich so laut drehen, wie es nur ging, damit ich wenigstens die Hälfte verstanden habe.«
»Dann ist der Geist des Tigers in einem Körper, der schlecht sieht, schlecht riecht und schlecht hört«, sagte Ulla. »Es ist
für ihn wie ein Zimmer ohne Fenster und Türen, aus dem er nicht herauskann. Das macht ihn rasend. Jetzt tötet er, wenn er
kann.« Ulla sah Tante Tiger an. »Du musst Amba befreien.«
»Rrrrrrrrrrrrmmmm«, knurrte Tante Tiger, spreizte die rechte Pfote, dass die Krallen wie Klingen aus der Tatze fuhren, dann
leckte sie die Fellbüschel dazwischen.
»Aber wie soll das gehen?«, rief Lippe. »Mit einer Operation? Mit Magie? Oder vielleicht mit einem Köder, der Amba wieder
aus der alten Rosa rauslockt?«
Ein Schatten fiel plötzlich über Lippes Gesicht.
Jonas fiel auf, wie still es auf einmal war. Keine Musik, kein Geschrei, nur eine einzige zart geschlagene Trommel. Ein strenger
Tiergeruch hing auf einmal in der Luft. Im selben Moment sagte eine Stimme, tief und voll wie eine Glocke: »Hallo Tiger. Hallo
Nanai. Hallo Knaben.«
|233| Jonas hob den Blick. Vor ihnen stand Funakis. Breitbeinig in seinen schwarzen Stiefeln und der blauen Latzhose ragte er wie
ein Baumstamm in den Nachthimmel. Der Mond stand hinter seinem Kopf, sodass seine Lockenmähne wie eine silberne Wolke leuchtete.
In diesem Moment war Jonas überzeugt, einen Gott vor sich zu haben.
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|234| Das Brüllen der Königin
Herr Funakis, nur Funakis oder Faun? Egal. Sein Benehmen jedenfalls war für ein erwachsenes Wesen ausgesprochen eigenartig.
Zunächst führte er einen kleinen Tanz auf, wobei er seinen riesigen Körper auf kleinen Schritten im Kreis schwang. Dazu sang
er: »Tiger Tiger Tiger, oh Tiger Tiger Tiger, oh Tiger Tiger Tiger …« Das sang er schneller und schneller und schneller und
drehte sich dazu immer rasender im Kreis, bis er langsam und ohne einen einzigen Laut in den Farn plumpste.
Jonas beschloss, genauso wie Ulla, einfach ruhig sitzen zu bleiben. Er fand noch ein Stück Schokolade, das steckte er sich
in den Mund.
Es war still, bis Funakis auf die Seite rollte und seinen Kopf in die Hand stützte. »Eine wunderschöne Nacht!«, rief er. »So
lau und lustig. Wie geschaffen für die Königin auf leisen Tatzen.« Er lachte sein meckerndes Lachen.
Das Gelächter passte überhaupt nicht zu seiner schönen Stimme, fand Jonas. Auch Tante Tiger störte das Lachen; ihr Leib vibrierte
von einem Grollen, das so tief war, dass Jonas es mehr spürte als hörte. Er konnte nicht erkennen, ob Funakis das Grollen
auch wahrnahm. Der lag da und sah sie alle der Reihe nach gleichmütig an. Seine Augen hatten dieselbe Farbe wie |235| das Harz, das manchmal aus den Rinden der Kiefern tropft: ein wässriges Gold. Augen wie Sterne, dachte Jonas, schwer zu sagen,
ob er einen ansah oder durch einen hindurch.
»Ich stehe mit meiner Quetsche verborgen im Farn, als ein altes Weib, ein kleiner Hund und ein Tiger sich am Zaun meines Klärwerks
begegnen«, hob Funakis mit seiner glockenreinen Stimme an.
»Ich weiß es, wenn ein Tier mein kleines Reich verlässt, schlendere also zum Zaun und sehe Amba, den mächtigen Geist und Beherrscher
der Wälder, wie er vor einem kleinen weißen Hund kauert. Der Hund stirbt fast vor Angst und bellt um sein Leben …«
Tante Tiger stöhnte auf. »Grausamer Wüstling! Warum haben Sie Herrn Teichmann nicht geholfen?« Ihre Augen blitzten und Jonas
duckte sich vorsichtshalber, um nicht von ihrem peitschenden Schwanz getroffen zu werden.
Funakis blieb ruhig liegen. Die Wut des Tigers ließ ihn kalt. »Der Natur lasse ich immer ihren Lauf.« Er lachte, diesmal gackernd
wie ein Huhn. »Ich bin weder gut noch böse, ich bin nur leise oder laut. Dort am Zaun, vor dem die Alte, der kleine Hund und
der Tiger sitzen, bin ich leise, weil die Sonne gerade den Horizont berührt. Es scheint ein mächtiger Moment zu werden.«
»Nein!«, brüllte Tante Tiger. »Nein!«
Jonas merkte wie der mächtige Leib in seinem Rücken zitterte. Tante Tiger hatte Angst.
»Es kommt, was kommen muss«, erzählte Funakis, |236| ohne sich von dem Gebrüll aus der Ruhe bringen zu lassen. »Der große Tiger frisst den kleinen Hund – haps! –, wie ein Schaf
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