Tiger Unter Der Stadt
Lippen.
»Schwimmt mit einer dicken Frau im Nachklärbecken.«
Jonas sah, wie sich Ullas Lippen kräuselten, als ob ein sachter Wind über sie striche und in Bewegung brächte: Ulla amüsierte
sich. Jonas stellte sich Frau Fischler vor, wie sie auf dem Rücken liegend mit Funakis in einem der kreisrunden Becken trieb
– zwei bauchige Inseln, die Händchen hielten …
Kurz darauf kam Tante Tiger durch den Farn getrottet und ließ sich auf ihren alten Platz neben dem Schlitten fallen. »Uuuuuuaaaah,
war das ein Vergnügen«, brummte sie. »Frischer Ochse, nur etwas stark durchgebraten für meinen Geschmack. Ich bevorzuge es
ja in letzter Zeit eher blutig.« Sie räkelte und streckte |243| sich und die gelben Augen blinzelten zufrieden. Jonas verstand das nicht, irgendwo hier lief ihr alter Menschkörper herum
und sie hatte nichts Besseres zu tun, als einen halben Ochsen zu fressen und Leute zu erschrecken.
»War die Angst, die Sie den Leuten eingejagt haben, auch ein Vergnügen?«, fragte Jonas und beobachtete die Schwanzspitze des
Tigers, die leicht zu zucken begann.
»Und was für eines!«, sagte Tante Tiger mit einem unergründlichen Schimmer in den Augen. »Das war noch besser als das Festmahl.
Dieser Grobian hat mich ja mitten unter die Leute geschleppt. Zuerst hat uns keiner beachtet, waren alle viel zu betrunken
und was weiß ich noch alles. Dachten wahrscheinlich, ist nur ein Sack neuer Leckereien, den der Klärwerksdirektor da wieder
anschleppt. Aber dann hat der Herr Direktor die Katze aus dem Sack gelassen.« Ein glucksendes Grollen rollte durch ihren Körper.
»Er hat mir ins Ohr geflüstert: ›Brüll, dass die Welt wackelt!‹, und mich dann abgesetzt.« Sie leckte sich über die Schnauze.
»Aaarrrrrrr, wie lange ich das schon einmal tun wollte: diese elende Menschenbande anbrüllen. Sie mussten sich duckten unter
meiner Stimme, die wie ein Sturm über ihre Köpfe gebraust ist. Sogar die fette Fischler, die Herrn Teichmann am liebsten den
Hals umgedreht hätte, wenn er im Hausgang gekläfft hat … Wie ein Häschen hat sie mich angeglotzt und als ich dann noch einmal
aus tiefster Seele gebrüllt habe, ist sie dem Direktor an den Hals gesprungen.« |244| Wieder lachte Tante Tiger. »Dann sind sie gerannt, als ob es um ihr Leben ginge …«
»Sie hatten Angst!«, sagte Jonas.
»Todesangst«, fügte Lippe düster hinzu. »Und ich weiß, von was ich rede.«
Tante Tiger schwieg kurz, hob den Kopf und sah nach oben in den schwarzen Nachthimmel. »Ach Gott, ist das eine Hitze«, stöhnte
sie dann. Nach einer Weile sagte sie leise: »So ein Gefühl hatte ich noch nie. Ich war stärker, wilder, schneller und gefährlicher
als jeder andere.« Sie riss ihr Maul auf, sodass die mächtigen Reißzähne im Mondlicht glänzten und eine Schwade Fleischgeruch
zu Jonas herüberzog. Gleichzeitig hob sie die Tatze vor das geöffnete Maul. Sie gähnte.
›Solange sie beim Gähnen noch die Pfote vor den Mund hält‹, dachte Jonas, ›kann es ja nicht so schlimm sein.‹ Er starrte vor
sich hin. Lippe auch. Ulla saß ihnen gegenüber und beobachte sie ohne jede Regung.
›Tante Tiger genießt es eben, ein Tiger zu sein‹, dachte Jonas. Aber Tiger waren Raubtiere und ein Mensch musste sich anders
benehmen, auch wenn er in einem Tiger steckte. Aber warum eigentlich? Weil der Mensch ein Mensch ist – eine bessere Begründung
fiel Jonas nicht ein. Aber was war eigentlich ein Mensch Besonderes, außer dass er kein Fell, keine Federn und keine Schuppen
hatte …
Lippe unterbrach seine Gedanken. »Tante Tiger, erinnern Sie sich noch, wie Nase und ich Herrn Teichmann mit dem ferngesteuerten
Auto erschreckt haben?«
|245| »Was denkst du denn?«, brummte Tante Tiger. »Dumme Lausebengel … Aber erinnerst du dich noch, Philipp, wie es war, das Auto
zu steuern?«
»Ja«, sagte Lippe, »aber jetzt schäme ich mich dafür.«
»Das vergeht mit dem Alter«, knurrte Tante Tiger. Sie lachte leise. »Ich habe mich lange genug geschämt in meinem Leben.«
»Sie müssen wieder zurück.« Jonas’ Stimme bebte. »Sonst fressen sie irgendwann noch jemanden auf.«
Tante Tiger sah Jonas lange an. Jonas starrte zurück, bis er spürte, dass ihm eine einzelne Träne über die Wange lief. Als
sie sein Kinn erreicht hatte, sagte Tante Tiger: »Jonas, ich werde nie einen anderen Menschen fressen, egal in welchem Pelz
ich stecke. Das verspreche ich dir.«
Jonas schluckte. »Werden Sie
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