Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
seinen Kopf. „Ich habe das vorausgesehen.“
Eleanor klatschte in die Hände. „Wunderbar!“
Anna ging den Gang entlang. Satt und müde, wie sie war, würde sie bestimmt schnell einschlafen.
Eine Zimmertür öffnete sich, und ein dunkles Gesicht starrte heraus. Die Züge erinnerten Anna entfernt an Christopher. Doch die Augen dieses Mannes waren teakholzbraun und schräg, die Haut dunkler und die Haare, die unter der flachen Kopfbedeckung zu sehen waren, glänzten wie schwärzeste Seide. Er musterte Anna mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination, dann leuchtete Erkennen im Gesicht auf.
„Dame von laoye !“ Er öffnete die Tür und grüßte Anna mit vor der Brust zusammengelegten Händen und einer Verbeugung. Er war einen ganzen Kopf kleiner als Anna. Die Bewegung brachte seinen Flechtzopf zum Schwingen, und Anna konnte sehen, dass er bis zu den Hüften des Mannes reichte.
Sie knickste verwirrt. Er musste Christophers Diener sein.
„Mein Name ist Anna Drysdale“, stellte sie sich vor. Sie fühlte sich unwohl. Er war zwar ein Diener, dennoch gehörte es sich nicht, sich selbst vorzustellen. Christopher oder jemand anders musste das übernehmen.
Der Mann deutete auf seine Brust. „Long Tian.“
Ein Lächeln entwischte Anna und kroch über ihr Gesicht. Ein kleiner Mann, dessen Name „groß“ bedeutete, konnte nicht gefährlich sein.
„Name heißt Drache am Himmel.“ Selbstsicher sah er Anna an. Diese nickte.
Er musterte sie aufmerksam und wackelte mit dem Kopf, als hätte er eine Antwort auf etwas gefunden. Erneut verbeugte er sich vor Anna, ehe er in das Zimmer zurückhuschte.
Sie setzte ihren Weg fort, ohne weiter über die Begegnung mit dem Diener nachzudenken.
„Ich habe Euren Schützling kennengelernt, laoye “, begann Long Tian auf Mandarin, während er Christophers Kleider ausbürstete.
Christopher wusste, worauf das Gespräch hinauslaufen würde. Seit er Long Tian, einen ehemaligen Beamten, aus der Gosse Schanghais gerettet hatte, hielt dieser es für seine Pflicht, sich um sämtliche Angelegenheiten Christophers zu kümmern. Zusätzlich zu seiner Arbeit als Leibdiener und Spion für Christopher.
Ein Diener war sowohl in der chinesischen als auch der britischen Gesellschaft unsichtbar. In den bornierten englischen Kreisen ging man davon aus, dass ein Ausländer, noch dazu ein wilder Heide, unfähig war, Englisch zu verstehen oder gar zu sprechen. Ein Umstand, der sowohl Christopher als auch Long Tian amüsierte, denn der kleine Chinese sprach nicht weniger als vier Sprachen fließend, darunter Englisch und Französisch. Long Tian war weit mehr als nur ein einfacher Diener. Er war zugleich Christopher Vertrauter, Spion und Leibwächter, wann immer es nötig war.
Christopher zog es vor, nicht zu antworten.
„Für eine langnasige, quarkgesichtige Britin ist sie recht ansehnlich“, meinte der andere beiläufig.
„Long Tian, es ehrt dich, dass du dich sorgst, aber es ist nur ein Geschäft.“
„Natürlich.“ Long Tian klang beleidigt. „Ein erfolgreicher Geschäftsmann sollte auch seine Privatangelegenheiten unter diesen Gesichtspunkten erledigen.“
Christopher seufzte. Vor allem wusste jemand wie er, wann es Zeit war, auf das Gerede und die Erwartungen anderer keinen Wert zu legen.
Anna war in jeder Hinsicht perfekt für ihn. Als Lucas St. Clare ihre Hand beinahe aufgefressen hätte und Anna dies mit sichtlichem Vergnügen zuließ, war sein Temperament mit ihm durchgegangen. Er wollte nicht riskieren, dass sie mit dem erstbesten Mann durchbrannte, der ihr nachstellte.
Nach dem gängigen Schönheitsideal hatte Anna nichts vorzuweisen, was dem englischen Ideal entsprach. Sie war zu groß, ihr Haar leuchtete zu rot, und zudem verbarg sie ihre weibliche Figur geschickt, sodass man genau hinsehen musste, um festzustellen, wie ansprechend ihr Körper war.
Der Gedanke an ihre leidenschaftliche Reaktion auf seinen Kuss erregte ihn erneut. Schon während des Dinners hatte er mit einer Erektion zu kämpfen gehabt, die immer dann steinhart wurde, wenn Anna lachte oder zu ihm herübersah.
Beunruhigt trat er ans Fenster. Er wollte Anna besitzen. Und das, obwohl sie so offensichtlich gegen ihr Begehren ankämpfte. Was sagte das über ihn aus? Dass er eine Frau ungeachtet ihres Willen erobern wollte?
Er schüttelte den Kopf. Christopher hatte niemals eine Frau in sein Bett genommen, die nicht auch bereitwillig hineingehüpft wäre. Und auch Anna würde kommen. Da war er
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