Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
ihrer Fahrt nach Ellesmere Manor gekommen waren. Schwerfällig wanderte die Alte den Weg entlang, so langsam, dass Anna nicht anders konnte, als zu der Frau zu laufen. Es war offensichtlich, dass die Greisin Hilfe benötigte.
Als Anna näherkam, sah sie, dass die Bucklige einen abgewetzten Männerrock trug. Durch ihr gelb-graues Haar schimmerte die Kopfhaut, rosa glänzend wie die Haut eines Säuglings. Gesicht und Hände der Frau waren von Sonne und Luft und Entbehrung dunkel und trocken wie gegerbtes Leder. Ihr Blick aus den hellblauen Augen war glasig.
Besorgt näherte sich Anna der Alten. „Mistress, braucht Ihr Hilfe?“
Die Frau blinzelte. „Ich komme schon zurecht.“ Ihre Stimme war brüchig wie Reisig. Sie schwankte, und Anna konnte nicht anders, als sie zu stützen.
„Lebt Ihr dort hinten?“
Die Alte nickte.
„Dann lasst mich Euch helfen.“
„Nicht nötig, Mylady“, wehrte die Frau ab. Ihr Atem ging stoßweise.
„Erlaubt mir, dass ich Euch beistehe, bitte.“ Anna sah die Greisin bittend an.
Zögernd machte die Frau eine zustimmende Kopfbewegung. Sanft nahm Anna ihr den Korb vom Rücken und setzte ihn sich selbst auf. Sie ächzte, als sie erkannte, dass nicht nur das Alter die Frau zusetzte. Was auch immer die bucklige Alte transportierte, es war schwer.
„Ich habe Holz gesammelt“, erklärte sie.
Anna nickte und wehrte den zaghaften Versuch der Buckligen ab, den Weidenkorb wieder an sich zu nehmen. Stattdessen reichte sie ihr die Hand und stützte sie.
Christopher trank seinen Tee und verschwand dann in Windeseile nach oben. Frustriert erkannte er, dass er zu spät kam. Anna war bereits aufgebrochen, und niemand hatte gesehen, wohin sie gegangen war. Das Einzige, was ihn tröstete, war, dass Anna auch vor dem Earl geflohen war.
Am Fenster stehend und eine weitere Tasse Tee genießend, überblickte er die Auffahrt.
„Haltet Ihr es für möglich, dass Anna eher zurückkehrt, wenn Ihr dort hinausstarrt?“ Long Tian trat neben Christopher. Seine schwarzen Augen blickten hinaus. Das Profil des Chinesen war flach, seine Augen schräg, aber längst nicht in den tiefen Höhlen liegend, wie es für Europäer üblich war. Long Tians Nase war ein kleiner Knubbel, der sich krauszog. „Ihr solltet Euch eine andere Gattin auswählen. Bestimmt gibt es genug willige Frauen in England, die auf Euren Vorschlag eingehen.“
Christopher trank einen Schluck. Gewiss gab es die. Doch er wollte Anna, und er hatte noch immer bekommen, was er wollte.
Sie war schon zu lange unterwegs. Vielleicht sollte er sich ein Pferd aus dem Stall holen und Anna suchen gehen.
Anna und die alte Frau kamen nur langsam voran. Anna hatte Mühe mit der ungewohnt schweren Last auf ihrem Rücken. Die alte Frau, die sich als Marie Allen, die Witwe des ehemaligen Dorfkürschners vorgestellt hatte, konnte wegen ihrer Behinderung nur gemächlich laufen. Jetzt, unbehindert durch das Gewicht des Holzes, atmete sie frei und gleichmäßig.
Die meiste Zeit liefen sie in einträchtigem Schweigen nebeneinander her. Das Dorf lag immer noch in beträchtlicher Entfernung. Anna bewunderte die Alte, die trotz ihrer Unzulänglichkeiten die Strapaze auf sich genommen hatte, Holz sammeln zu gehen. Anna fragte sich, ob es denn niemanden gab, der dies für sie übernahm.
Hinter ihnen war das Geräusch galoppierender Pferdehufe zu vernehmen. Anna und Marie Allen wichen aus, doch der Reiter zügelte sein Tier und kam hinter den beiden zum Stehen. Das Pferd schnaubte und stampfte mit den Hufen.
„Miss Anna?“ Sie erkannte die Stimme von Lord Lucas St. Clare. Er stand neben ihr, und aus dem Augenwinkel sah Anna, dass Marie einen ungeschickten Knicks machte.
„Gebt das mir!“ Er griff nach dem Korb, doch Anna wich aus.
„Ich habe Marie versprochen, ihr damit behilflich zu sein“, erklärte sie entschieden.
Entschlossen packte Lucas den Transportbehälter. „Und ich werde Euch behilflich sein, Miss Anna!“ Er zog ihr die Gurte von den Armen und schulterte den Korb. Als er das Gewicht des Inhaltes erkannte, musterte er Anna mit Respekt. „Derartige Lasten sind nichts für Frauen.“
Anna fixierte ihn störrisch. „Marie trägt schon seit Jahren ihr Holz auf diese Art nach Hause.“
Lucas nickte der Alten freundlich zu. „Eure Freundin ist schwere Arbeit von Kindesbeinen an gewöhnt.“
„Was soll das heißen? Das ich eine verwöhnte, schwache Lady bin?“
Er ergriff ihre Hand und hauchte einen Kuss darauf. „Das
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