Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
Haus, und der Anwalt duldete Annas Verweilen nur, weil er keine gegenteiligen Anweisungen erhalten hatte. Wie es schien, trieb sich ihr Stiefonkel auf unabsehbare Zeit im Ausland herum.
Anna seufzte und wandte sich wieder ihrer Näharbeit zu.
Die Türglocke läutete, und sie vernahm das Öffnen der Pforte und leise Stimmen. Caítlín, die Irin, die ihr seit dem Tod ihrer Eltern als Haushälterin und Mädchen für alles diente und im Laufe der Jahre mehr Freundin als Dienerin geworden war, glitt in den Salon. Sie trat näher und reichte Anna eine Visitenkarte. Verblüfft und beunruhigt las Anna den Namen.
„Um Himmels willen, mein Stiefonkel ist da?“ Sie warf das Nähzeug in den Korb. „Lass ihn einen Moment warten, damit ich rasch hinaufgehen kann. Dann führ ihn herein und sorg dafür, dass der alte Herr es bequem hat. Ich beeile mich.“
Caítlín blinzelte verwirrt und knickste. „Ja, Miss Anna.“
Anna lief in ihr Schlafzimmer und warf einen prüfenden Blick in den Spiegel. Ihr Haar hatte sich gegen die Bändigung durch Band und Nadeln entschieden und umringelte ihr Gesicht. Sie riss das Haarband herunter, zupfte ihr Kleid zurecht und benetzte ihre Hände mit Lavendel-Rosen-Wasser, ehe sie über ihre Zöpfe strich und mit wenigen Handgriffen ihre Frisur ordnete. Sie klopfte das Duftwasser in ihre Gesichtshaut und tupfte Lippenpomade auf. Ein kritischer Blick zeigte ihr, dass sie bereit war, ihrem Stiefonkel gegenüberzutreten.
Sie ging gemessenen Schrittes hinunter und blieb vor der Salontür kurz stehen, um Luft zu holen. Anna unterdrückte ihre Furcht und trat ein. Ihr Stiefonkel stand mit dem Rücken zu ihr am Fenster. Überraschenderweise schien er nicht annähernd so alt wie ihr Stiefvater. Sie hatte einen älteren Herrn erwartet. Christopher Drysdale trug sein schwarzes, glattes Haar entgegen den modischen Gepflogenheiten viel zu lang, und er hielt sich aufrecht. Er war hochgewachsen. Angenehmerweise größer als sie, was selten genug vorkam. Doch nicht das fiel Anna in erster Linie auf. Es war die Präsenz, die er ausstrahlte. Nur einmal in ihrem bisherigen Leben war sie jemandem begegnet, der so einnehmend wirkte wie Christopher Drysdale. Anna kam näher und räusperte sich.
Dunkelgrüne Augen, die sie durchbohrten, waren das Erste, was Anna wahrnahm, als er sich umdrehte. Keuchend wich sie einen Schritt zurück.
„ Ihr ?!“ Sie hatte den Mann auf dem Balkon nie vergessen. Und noch weniger die verwirrenden Gefühle, die er in ihr auslöste. Wochenlang hatte sie nach ihm Ausschau gehalten. Gehofft, ihn wiederzusehen, herauszufinden, ob die Anziehungskraft echt oder nur der Magie der Nacht und ihrem Debüt zuzuschreiben war. Als er verschwunden blieb, war sie sicher gewesen, ihn nie wieder zu sehen.
Und jetzt stand er vor ihr, und dieses Kribbeln und Toben in ihrem Innern brandete erneut auf. Sie streckte ihre Hand aus und bekam die Rückenlehne des Sofas zu fassen. Ihr Herz hämmerte bis hinauf zu ihren Ohren.
Er neigte grüßend den Kopf. Einzig die Augen, die sich einen Moment überrascht weiteten, verrieten seine eigene Gefühlslage. „Meine Liebe, wie ich erfahren durfte, bist du meine Nichte Anna.“ Seine Stimme klang kühl und bedacht.
Anna knickste automatisch und versuchte, das beängstigende Vakuum in ihrem Kopf zu bezwingen. Sie starrte auf die Weste unter seinem Jackett, rote Seide mit aufgestickten Drachen. Die Kniebundhosen, schwarz wie sein Rock, waren aus bestem Tuch.
Teuer, überlegte Anna. Ihr Stiefonkel musste wohlhabend sein. Vielleicht ließe er sie großzügigerweise im Haus leben. Das würde zwar die gravierende Schwindsucht ihrer Ersparnisse nicht beenden, doch sie würde immerhin nicht sofort im Armenhaus landen.
„Erfreut, Eure Bekanntschaft zu machen, werter Onkel.“
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Sein Blick, intensiver als sie ihn in Erinnerung hatte, brachte sie zum Erröten wie ein junges Mädchen.
„Ich bevorzuge es, wenn du mich Kit nennst.“ Er lächelte. „Mich kümmert die Etikette des ton wenig.“
Anna blinzelte. Ihn beim Spitznamen zu rufen, kam ihr gewagt vor. Doch er war älter und ihr Onkel. Sie nickte zustimmend.
„Ich habe mich umgehört“, begann er.
Anna straffte sich.
„Du genießt einen ausgesprochen guten Ruf in der Gesellschaft und dein leiblicher Vater war ein Viscount. Trotzdem scheint es dir an Verehrern zu mangeln. Warum?“
Seine direkte Art war verletzend. Anna hüstelte und rang nach
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