Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
nicht!“
Eleanor sah Anna ins Gesicht. „Was bewog ihn dann dazu, so überstürzt zu heiraten? Mit Sondergenehmigung hättet ihr kaum Wartezeit gehabt.“
Fieberhaft dachte Anna nach. Um Zeit zu schinden, biss sie in ihr Gebäck. Das Eclair schmeckte auf einmal wie Pappe.
Am besten bliebe sie mit ihrer Flunkerei so nah an der Wahrheit wie nur möglich, überlegte sie.
„Kit wollte unbedingt verheiratet sein, wenn Mr. Peacock in England eintrifft“, behauptete Anna. Ihren Stiefvater hätte sie mit dieser Schwindelei niemals aufs Glatteis führen können, doch Eleanor nickte langsam.
„Ja, ja, das klingt ganz nach Kit“, gab sie zu.
Im Geiste beglückwünschte sich Anna. Doch ihre Liste mit Verfehlungen wurde immer länger, nun kam auch noch Lügen hinzu!
Sie unterdrückte ein frustriertes Seufzen.
Anna gähnte verstohlen. Der Ball neigte sich langsam seinem Ende zu. Am Horizont zeigten sich bereits die ersten Lichtfetzen, und die kühle Morgenluft wehte durch die offenen Fenster. Eine wohltuende Erfrischung in dem stickigen Saal.
„Anna.“ Der Mann näherte sich von hinten und flüsterte ihren Namen.
Sie drehte sich erschrocken um und sah sich Lucas gegenüber.
„Lucas!“ Erfreut lächelte sie ihn an und errötete, als sie sich an die Geschehnisse auf der Soiree erinnerte, zu der sie und Christopher geladen hatten.
Er erwiderte ihr Lächeln. Gut sah er aus. Der Frack betonte seine breiten Schultern, und darunter trug er ein blütenweißes Hemd ohne Gilet.
Prüfend musterte er sie. „Geht es Euch gut, Anna?“
„Aber natürlich.“
Sein Blick wurde ernst. „Ich bin Ihr Freund. Das wisst Ihr?“ Er drückte ihre Hand verstohlen. „Egal, was geschieht, Ihr könnt Euch immer an mich wenden!“
Verwirrt lachte Anna. „Danke, aber warum sagt Ihr mir das alles?“
Lucas blickte sich um, ob auch niemand in Hörweite herumstand. „Es gibt neue Gerüchte“, begann er.
„Was für Gerüchte?“
„Es heißt, Euer Gatte schmuggle Opium in großen Mengen nach London.“
Anna dachte an Kits Reaktion wegen des Laudanums und schüttelte den Kopf.
„Kit? Niemals!“
Lucas sah sie eindringlich an. „Seid Ihr sicher? Seid Ihr wirklich absolut sicher?“
In Annas Magen begann es zu blubbern. Sie erinnerte sich an die mysteriöse Unterhaltung zwischen Wexley und Christopher. Hatten sie von Opium gesprochen? Was könnte sonst der Grund für die Bestechung sein?
Sie biss sich auf die Unterlippe.
„Ja“, behauptete sie. „Ich bin überzeugt, dass alles nur Gerüchte sind! Kit würde niemals Opium schmuggeln.“
Anna wich zurück. „Wenn Ihr mich entschuldigt? Ich wollte mich gerade auf den Heimweg machen.“
Nachdem sie sich für das Bett fertiggemacht und Caítlín aus dem Zimmer geschickt hatte, dachte sie einen Moment nach. Christopher schlief bestimmt schon lange. Aber sie mochte nicht allein sein.
Entschlossen hüllte sie sich in ihren Morgenmantel und huschte verstohlen in Christophers Schlafgemach. Durch die offenen Vorhänge fiel fahles Tageslicht in das Zimmer.
Christopher lag ausgestreckt auf dem Rücken im Bett. Ein nacktes Bein hing auf den Boden, ein Arm ebenfalls. Der andere Arm war unter seinen Kopf geschoben. Die Bettdecke lag über seinen Lenden, doch Anna vermutete, dass Christopher darunter nichts trug.
Sein Brustkorb hob und senkte sich in gleichmäßigen Atemzügen, und jedes Heben ließ das goldfarbene Medaillon auf seiner Brust blitzen.
Sie trat vorsichtig näher, der Anhänger war ihr unbekannt. Weshalb trug er auf einmal dieses schäbige Ding um den Hals?
Sie zog ihren Morgenmantel aus und betrachtete Christophers Gesicht, ehe sie zu ihm ins Bett stieg. Seine Wimpern ruhten auf den Wangen, und die entspannten Gesichtszüge rührten tief in ihr etwas an, das sie mit Zärtlichkeit für diesen rätselhaften Mann erfüllte.
Anna streichelte ihm sacht über das Gesicht, und Christophers Mundwinkel verzogen sich zu einem Lächeln.
Liebe floss durch ihr Herz, durchdrang jeden Zentimeter ihres Seins. Anna wollte nicht glauben, dass er all die schlimmen Dinge tat, derer er verdächtigt wurde. Sie glitt neben ihn auf die Matratze, zog die Decke hoch und kuschelte sich an ihn.
Ehe sie einschlief, fiel ihr Blick erneut auf das Medaillon. Billiges Metall, soweit sie es beurteilen konnte, doch das eingeprägte Muster war äußerst kunstvoll gearbeitet.
Im nächsten Moment war das Schmuckstück vergessen, und Anna sank in Morpheus’ Arme.
justify
Kapitel
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