Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
Braune Wimpern umrahmten ihre blauen Augen, und zusammen mit den rosig überhauchten Wangen und den roten Lippen wirkte sie wie die Idealvorstellung, die er von einer jungen Frau hatte.
Sie lächelte ihn an, und die Süße dieser Geste ließ ein warmes Gefühl in ihm aufsteigen. Ernest und ihre Mutter hatten sie in das Korsett der Prüderie und Wohlanständigkeit gesteckt und Annas Selbstbewusstsein im Keim erstickt. Beinahe wäre es ihnen gelungen, Anna zu einer weiteren langweiligen Dame des ton zu formen.
Und so ganz abstreifen konnte sie die anerzogene Denkweise immer noch nicht. Eine rechtmäßige Ehe war nach wie vor Annas Wunsch, obwohl sie es nicht offen aussprach.
Nachdenklich musterte Christopher ihre Finger. Wenn sie einander liebten und zusammenbleiben wollten, auch über dieses eine Vertragsjahr hinaus, dann wäre es keine große Sache.
Sie wäre für immer Sein.
Sein Magen zog sich zusammen. Sie wären aneinander gebunden. Für immer.
Die Vorstellung hatte auf einmal einen verlockenden Klang.
„Nun blick nicht so säuerlich drein, Long Tian!“ Christopher zog den abgewetzten Mantel über und sah noch einmal prüfend aus dem Fenster.
„Was geschieht, wenn Anna zurückkehrt?“
„Dann müssen wir die Dirnen eben rechtzeitig aus dem Haus schaffen.“
„Warum bezahlt Ihr das Weib, das Euch die Beschaffung des Medaillons versprochen hat, nicht und beendet die Bewirtung dieser nichtsnutzigen Geschöpfe?“
„Weil ich es so geplant habe.“ Selbst Long Tian, dem er sein Leben anvertraute, brauchte nicht alles zu wissen. Jede dieser Prostituierten hätte seine Mutter sein können.
Er hatte sie in Schanghai und in Kanton gesucht, aber niemals gefunden. Man hatte ihm versichert, sie hätte gewiss das Schicksal aller Prostituierten gefunden. Frauen in diesem Gewerbe waren weder vom Glück beschienen noch wurden sie alt. Die Huren aus dem East End für ein paar Stunden an einem warmen Ort zu beherbergen, ihnen zu essen zu geben und sie ausruhen zu lassen, schien Christopher das einzige zu sein, was zu tun er in der Lage war. Er würde dadurch weder die Prostitution ausrotten noch diese Frauen retten können. Doch ihnen ein wenig Wärme und Ruhe zu gönnen, gab ihm wenigstens die Illusion, seiner Mutter nahe zu sein.
Anna stand mit einigen Damen zusammen und unterhielt sich angeregt.
„Lady Munthorpe!“ Lady Mansfield näherte sich und grüßte Anna freundlich. „Sagt, wo ist denn Euer Gatte?“
Anna zögerte. „Unaufschiebbare Geschäfte.“
„Dass Männer immer derartige Erledigungen vorschieben, wenn es auf einen Ball geht. Ich habe noch nie erlebt, dass ein Gentlemen den Besuch im Club oder bei Tattersall’s verschob, weil ihn dringende Geschäfte hinderten!“
Lady Mansfield lachte, und Anna stimmte ein.
Eleanor Tilney tauchte auf. Sie wirkte überaus elegant in ihrem mit Goldfäden durchzogenen Abendkleid, und als Anna einen Blick auf die Füße warf, sah sie, dass Lady Winchesters Schuhe vollständig vergoldet waren. Sie streckte ihre Hände aus und nahm Annas in ihre.
„Anna, meine Liebe, ich darf dich doch duzen? Wo hast du denn deinen werten Gemahl gelassen?“ Sie strahlte Anna wohlwollend an.
Anna blinzelte überrumpelt. „Ja, Lady … ich meine Eleanor. Kit wollte seine Buchhaltung erledigen. Er bestand darauf, dass ich allein herkomme.“
Eleanor nickte. „Der gute Kit.“ Sie musterte Anna neugierig. „Es geht euch beiden doch gut?“
„Selbstverständlich“, erwiderte Anna verwirrt.
Die Lady strahlte. „Wunderbar!“ Sie wechselte das Thema. „Hast du dich schon am Büffet bedient?“
Anna verneinte.
„Kommst du mit? Die Eclairs, die der Koch zubereitet, sollen ein wahrer Gaumenschmaus sein.“
Die beiden Frauen entschuldigten sich und suchten den Nebenraum auf. Dort war eine lange Tafel erlesener Köstlichkeiten aufgebaut. In der Mitte des Zimmers stand ein runder Tisch, auf dem man gefüllte Champagnergläser zu einer fragilen Pyramide aufeinandergestapelt hatte.
Anna überblickte das Angebot und entschied sich für ein Zitronen-Eclair, während Eleanor die sündige Version aus Schokolade wählte.
Sie setzten sich auf eines der Sofas an der Wand und aßen eine Weile schweigend.
„Eure Abreise nach Gretna Green hat uns überrascht. Kit neigt für gewöhnlich nicht zu solch übereilten Handlungen.“ Eleanor starrte auf Annas Bauch. „Er hat dich doch nicht etwa geschwängert?“
Annas Hand flog erschrocken auf ihren Bauch. „Natürlich
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