Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
schlenderte mit Anna durch die gepflegte Anlage. Die Parkanlage war so exklusiv wie der Hyde Park, jedoch bei Weitem nicht so belebt wie dieser. Aber vor allem trafen sie keinen einzigen näheren Bekannten, der ihre Zweisamkeit störte. Sie liefen vorbei an Rhododendron-Büschen, die nicht nur üppig, sondern auch duftend blühten. Sie blieben an einem kleinen Teich stehen, auf dem Wildenten ihre Kreise zogen, und spazierten dann über eine satte grüne Wiese, bis sie an einem schattigen Plätzchen ankamen. Christopher breitete sein Jackett sorgsam auf dem Boden aus und ließ Anna darauf sitzen, ehe er neben ihr Platz nahm.
„Was wurde aus deiner Mutter? Hast du sie jemals aufgesucht?“ Anna nahm ihren ganzen Mut zusammen, um Christopher das zu fragen. Sie hatte gespürt, wie schmerzhaft das Thema für Christopher war, als er ihr das erste Mal davon erzählte.
Seine Hand legte sich automatisch an seinen Hemdkragen. Er starrte auf die Landschaft vor sich, musterte scheinbar interessiert die sanftgrünen Wiesen und die dicht gewachsenen Bäume vor sich.
„Mein Vater berichtete mir und jedem, der es hören wollte, sie sei die Tochter eines einflussreichen chinesischen Kaufmanns gewesen, die bei meiner Geburt starb.“ Er warf Anna einen kurzen Blick zu. „Unter den anderen Kindern stach ich mit meinem Aussehen heraus.“
„Kinder können grausam sein“, entgegnete Anna verständnisvoll und legte ihre Hand auf seine.
Christopher lachte rau. „Ihre Gemeinheiten ließ ich an meinem alten Herrn aus. Ernest meinte, er sei viel zu weichherzig. Wie dem auch sei, am Tag vor meinem vierzehnten Geburtstag stritten mein Vater und ich. Noch in derselben Nacht riss ich von zu Hause aus und schlich mich an Bord eines Schoners, der gen Asien segelte.“
Anna riss die Augen auf. „Haben sie dich entdeckt?“
„Erst auf hoher See.“ Christopher grinste. „Vater lehrte mich von klein auf Mandarin und Kantonesisch. Er hielt es für wichtig, dass ich meine chinesischen Wurzeln nicht vergaß, meinte er. Nun kam es mir zugute. Der Kapitän behielt mich als Schiffsjunge und später als seine rechte Hand. Durch mein Aussehen und meine Sprachkenntnisse konnte ich in asiatischen Häfen in der Menge mit den Einheimischen verschmelzen.“ Christopher pflückte einen Grashalm und begann, darauf herumzukauen.
Anna war fasziniert. Als Vierzehnjährige hatten Unterricht und Handarbeiten ihre Tage ausgefüllt.
„Irgendwann gelangten wir nach Schanghai, und dort fand ich die Wahrheit über meine Abstammung heraus. Niemals würde ein angesehener Chinese seine Tochter mit einem fremdländischen Barbaren vermählen, nicht einmal zu sehen bekäme ein Europäer die unverheirateten chinesischen Mädchen.“ Christopher zuckte mit den Schultern.
„Du hast dich daraufhin mit deinem Vater ausgesöhnt und kamst nach Hause zurück?“, fragte Anna interessiert.
„Nein, ich fand ein einträgliches Auskommen. Und da ich mittlerweile als Chinese galt, konnte ich lukrativere Geschäfte abschließen als die Europäer.“
Er schnippte den Grashalm fort.
„Ist dein Leben in Schanghai so viel anders als hier?“
„Die Entfernung zum Mond ist kaum größer als der Unterschied zwischen China und England. Die Chinesen sind … anders.“
Er warf einen prüfenden Blick zum Himmel. „Sieht nach Regen aus.“ Er erhob sich und half Anna auf. „Lass uns nach Hause zurückkehren.“
Sie saßen in schweigender Eintracht beisammen, als die Kutsche sie nach Mayfair zurückfuhr. Christopher hielt ihre Hand, und die keusche Berührung brachte sein Herz heftiger in Aufruhr als die ausgefallenste Sexpraktik.
Er betrachtete Anna. Der Unterschied zur altjüngferlichen Angehörigen des ton bei ihrer ersten Begegnung in Ernests Haus wurde ihm bewusst. Er hatte damals zwar ihre Reize wahrgenommen, doch eine körperliche Beziehung nicht in Betracht gezogen. Zu kühl, zu abweisend war sie ihm erschienen. Doch ihre Ohrfeige hatte seine Fehleinschätzung bewiesen, und von da an hatte ihn die Zähmung der kleinen Wildkatze gereizt.
Und wie leidenschaftlich sie war! Sie fand ebenso großen Gefallen daran, ihn zu bekämpfen, wie er an ihrer Unterwerfung. Noch nie hatte ihm das Liebesspiel so viel Erfüllung geschenkt wie mit Anna. Sie konnte zärtlich und anschmiegsam sein, aber auch wild und hemmungslos.
Er musterte sie mit dem Blick eines neutralen Beobachters. Ihr Haar war zu einer lockeren Frisur aufgesteckt, aus der einzelne Locken gerutscht waren.
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