Tigerlilie - Paul, I: Tigerlilie
Wachleute – dafür, dass nur Porzellan, Tee und Stoff gelagert werden.“ Bertram tätschelte beruhigend Annas Hand. „Aber das sind alles nur vage Vermutungen. Wie ein Mann seine Geschäfte führt, geht nur ihn etwas an. Bestimmt hat Kit Gründe für alles. Ich glaube nicht an Opiumhandel.“
Leider beruhigte Anna das Gehörte überhaupt nicht.
Als sie im Haus in Mayfair ankam, hatte sie beschlossen, Christopher einfach nach dem Opium zu fragen und dann zu entscheiden, ob sie ihm vertraute.
Da Anna weder Besuch erwartete noch vorhatte, das Haus erneut zu verlassen, kleidete sie sich in eines der chinesischen Kleider, die Christopher für sie hatte anfertigen lassen.
Das Gewand umschloss ihren Körper und hatte einen kurzen Stehkragen. Vorn war es durchgehend geknöpft, und die Seide umschmeichelte kühl und glatt ihren Körper. Die passenden Pantoffeln dazu waren so weich und bequem, dass Anna einen wohligen Seufzer ausstieß, als sie hineinschlüpfte.
Sie bewegte sich völlig lautlos durch das Haus. Vor Christophers Arbeitszimmer angekommen, hielt sie inne, weil sie Stimmen hörte. Sie drückte ihr Ohr an die Tür.
Christopher redete gerade. Er klang kühl und überlegt, anders als sein Gesprächspartner, dessen Stimme laut und erregt schien.
„… das ist nicht vergleichbar mit Tee und Stoff. Ihr könnt nicht ernst meinen, was Ihr da verlangt!“
Christopher sprach erneut, der andere unterbrach ihn: „Sie hören mir zu! Ich beteilige mich nicht an dieser Sache! Sie kennen die chinesischen Gesetze. Sie gelten für alle Briten!“
Erschrocken trat Anna zurück. Sie schlug die Hand vor den Mund und bemerkte erst, als sie gegen die Wand prallte, dass ihre Füße sich ohne ihr Zutun weiterbewegt hatten.
Anna wandte sich um und rannte hinauf in ihr Zimmer. Sie verschloss die Tür, warf sich auf ihr Bett und brach in Tränen aus. Was konnte das geheimnisvolle Gespräch anderes bedeuten, als dass die Gerüchte stimmten? Christopher verschiffte Waren, deren Einfuhr in England verboten war. Oder anrüchig.
Ihr Herz brannte, während ihr Körper eiskalt war. Sie unterdrückte ein Zittern. Sie liebte einen Verbrecher!
Anna sprang hoch, riss sich die Kleider vom Leib und schlüpfte in eines ihrer alten Ausgehkleider.
Rumoren in der Eingangshalle weckte ihre Aufmerksamkeit. Sie sah aus dem Fenster und entdeckte, dass Christopher in eine Kutsche stieg. Sein geheimnisvoller Gast war nicht zu sehen.
„Wenn das nicht der richtige Moment ist!“, murmelte Anna und begann, ihre Reisetasche zu packen. Sie würde Christopher verlassen. Nicht eine Sekunde länger bliebe sie bei einem Verbrecher und Lügner und Frauenverführer wie ihm!
Sie schloss die Tür auf und klingelte nach Caítlín, die kurz darauf erstaunt im Schlafgemach stand.
„Caítlín, pack deine Sachen. Wir gehen!“
„Gehen?“, echote die Irin verwirrt. „Aber wohin, in Gottes Namen?“
„Nach Hause, zurück in die Barlyn Street.“ Der dümmste Rückzugsort, den sie wählen konnte. Im Moment ging es ihr nur darum, nicht mehr unter einem Dach mit Christopher zu leben. Vielleicht könnte sie schon morgen weiter zu ihrer Brieffreundin Jane reisen.
„Warum, Miss Anna?“ Caítlín bewegte sich keinen Millimeter.
„Ich verlasse Lord Munthorpe.“
„Aber …“
Anna fiel ihr ins Wort. „Lass gut sein, Caítlín. Komm mit oder bleib. Ich gehe!“
„Ich benötige fünf Minuten, Miss Anna.“
Sie eilte hinaus, und schneller als erwartet stand sie aufbruchbereit in Annas Gemach.
„Weißt du, wo die anderen Dienstboten sind? Ich möchte nicht gesehen werden.“
„Wir können zum Haupteingang hinaus. Die Dienstboten sitzen gerade beim Mittagessen.“ Dem Klang ihrer Stimme nach bedauerte Caítlín, nicht bei den anderen zu sein.
Anna versperrte hinter sich die Schlafzimmertür und steckte den Schlüssel ein. Es war ihr eine Genugtuung, dass Christopher die Tür aufbrechen musste, um hineinzugelangen. Und die Sorge, die er bis dahin auszustehen hatte, gönnte sie ihm von Herzen.
Christopher kehrte gegen Abend müde und voller Vorfreude auf Annas Gesellschaft nach Hause zurück.
Long Tian kam ihm entgegen.
„Wo ist Anna?“, fragte Christopher, während er aus seinem Jackett schlüpfte.
„Wir haben sie seit ihrem Besuch bei Mrs. Hopplewhite nicht mehr gesehen“, erklärte Long Tian.
Christopher runzelte die Stirn. „Ist sie auf ihrem Zimmer?“
„Möglicherweise“, entgegnete der kleine Chinese.
Christopher eilte
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