Tigermilch
Jameelah was antworten kann, reiße ich ihr den Hörer aus der Hand.
Papa?
Nini, sagt er wieder, bist du das?
Ja, Papa, ich bins.
Ich habe plötzlich eine ganz schlimme Piepsstimme.
Mein Gott, ist irgendwas passiert, wo ist deine Mutter?
Keine Ahnung.
Ist alles in Ordnung?
Ja, sage ich.
Kindchen, was jagst du mir denn für einen Schrecken ein, sagt Papa, ich dachte schon, es ist was Ernstes.
Ehrlich gesagt kapiere ich nicht wirklich, was er jetzt damit meint, mit Ernst und dem Schrecken. Ich würde so gern fragen, das und tausend andere Sachen würde ich gern fragen. Ich mache die Augen zu und versuche im Kopf einen Satz zu formen, aber mein Kopf ist komplett leer, und genauso wie das lose Nähgarn mit den Überraschungseierfiguren verheddern sich die Wörter in meiner Lunge, in der Stimme, in der Luft.
Es rauscht wieder in der Leitung.
Ich bin im Zug, sagt Papa, ich höre dich schlecht.
Ich dich auch, sage ich.
Er antwortet irgendwas, aber seine Stimme und einzelnen Wörter fallen auseinander zu unverständlichen Silben, und irgendwann ist da nur noch ein riesiges Funkloch. Papa ist weg. Es piept, ich halte noch eine Weile das warme Handy in der Hand, ich denke, vielleicht heißt Handy deswegen Handy, weil es sich wie eine warme Hand anfühlt, wie die noch warme Hand von wem, der gerade gestorben ist, weil auflegen, das ist doch auch jedes Mal ein bisschen so wie sterben, auflegen ist der kleine Tod.
Scheißfunkloch, sagt Jameelah, komm, ich ruf noch mal an.
Nein, sage ich, dabei fällt mir auf, dass meine Stimme wieder normal klingt.
Mir gehen tausend Sachen durch den Kopf, all die Sachen, die ich fragen wollte, all die verhedderten Wörter stehen plötzlich da wie kleine Soldaten, kerzengerade, Gewehr bei Fuß stellen sie sich nebeneinander auf und bilden Sätze. Ob er noch den Kronkorkenschlüsselanhänger hat, den ich ihm damals im Kindergarten gebastelt habe, ob es Chico noch gibt und Oma Meulsig, warum er mir damals überhaupt den Bodyguard -Soundtrack geschenkt hat, ob das vielleicht ein Zeichen sein sollte, so nach dem Motto, ich beschütze dich, wenn auch nur aus der Ferne, und warum er mich dann nicht einfach gleich mitgenommen hat, anstatt mich aus der Ferne zu beschützen. Zumindest fragen können hätte er mich. Vielleicht wollte er aber auch gar nicht, dass ich mit ihm gehe, vielleicht war ich klein und lästig und nutzlos, verdreckt und verheddert, wie die Sachen aus der Krempelschublade, wie Mamas modrige Wäsche oder Rainers nutzlose Küchengeräte, so Zeugs, das wird beim Umzug ausgemistet, so was will man in der neuen Wohnung nicht haben, das weiß doch jeder.
Alles in Ordnung, fragt Jameelah.
Weiß nicht. Seltsame Sache. Hab so lange nicht mit ihm geredet. Kam alles so plötzlich.
Immerhin hast du jetzt seine Nummer, sagt Jameelah, jetzt kannst du ihn anrufen, wann immer du willst. Ist doch super!
Ja, sage ich, stimmt, dabei weiß ich genau, dass das nie passieren wird. Ich werde Papa nie wieder anrufen, und da fällt mir wieder ein, dass ich ihn ja eigentlich wegen dem Ring sprechen wollte. Der Ring, ich scheiß auf den verdammten Ring, was habe ich damit zu tun, mit Mamas Gejammer um den Ring, was muss ich das wissen, ob Papa den Ring mitgenommen hat oder nicht, und dann ertappe ich mich dabei, wie ich mir wünsche, Papa doch an der Kurfürsten getroffen zu haben. Klar, das hätte Ärger gegeben, Mama und Rainer hätten es erfahren und die Schulleitung, und Papa wäre sicher furchtbar enttäuscht von mir gewesen, kann schon alles sein. Aber an mich denken müssen hätte er, daran, dass er irgendwo noch eine Tochter hat, eine, die echt Scheiße baut, und dann hätte er sich wohl oder übel mal um mich Sorgen machen müssen. Ein einziges Mal hätte er sich Sorgen machen müssen.
Noura sagt immer, manchmal muss man was Schönes machen, etwas, das einem ganz allein gehört. Heute mache ich was Schönes, und zwar ganz allein. Mama und Jessi sind nicht da, sie haben mir heute Morgen schon Tschüs gesagt, Mama hat mir, bevor sie los ist, 20 Euro gegeben, und dann noch mal 20 fürs Taxi.
Mein Koffer zum Hinterherziehen, den ich für die Skifreizeit bekommen habe, steht gepackt im Flur. Ich schaue auf die Uhr, ich darf noch genau eine Stunde was essen und trinken, dann erst wieder morgen, wenn alles vorbei ist, aber ich bin so aufgeregt, dass ich eh nur Frühstück essen konnte. Ich nehme meinen Koffer und gehe runter auf die Straße, dort winke ich ein Taxi heran. Ich bin noch
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