Tigermilch
hört, dann ist das genauso, als ob der tot ist.
Quatsch, sagt Jameelah, wenn du wirklich wollen würdest, dann könntest du ihn wiedersehen. Oder ihm wenigstens schreiben.
Wollte ich ja auch, sage ich, wegen dem Ring.
Na, dann mach doch. Am besten gleich anrufen. Würde ich sofort machen. Dem würde ich was erzählen. Seine Familie einfach so sitzen zu lassen.
Anrufen, ich weiß nicht. Das traue ich mich nicht.
Hat deine Mutter ein Adressbuch?
Ja.
Ich wette, deine Mutter hat die Nummer da drinstehen.
Warum sollte sie? Die haben nichts mehr miteinander zu tun.
Eltern haben so was voneinander, erst recht, wenn sie verfeindet sind. Glaub mir, zerstrittene Eltern sind viel mehr aneinandergekettet als Eltern, die sich noch verstehen.
Jameelah steht auf und klopft sich die Krümel von der Hose.
Komm, zeig mal das Adressbuch.
Als wir vor Mamas und Rainers Schlafzimmer stehen, klopfe ich vorsichtshalber, bevor ich die Tür öffne, aber niemand da, das Bett ist frisch gemacht, sogar die Tagesdecke liegt drauf, das war bestimmt Rainer. Hinten am Fenster steht ein Tisch, darauf steht ein kleiner Fernseher, unter dem Fernseher ist eine Schublade, in der Mama immer die Fernbedienung und die Hörzu aufbewahrt. Unter der Hörzu liegt das Adressbuch.
Hier, sage ich und reiche Jameelah mit klopfendem Herzen das Heft.
Wie heißt er denn, fragt sie.
J, unter J wie Joachim musst du schauen.
Jameelah setzt sich im Schneidersitz aufs Bett, feuchtet ihren rechten Zeigefinger an und blättert in dem Heft rum. Ich schaue ihr dabei über die Schulter, G, H, I, die Tagesdecke ist schon ganz verrutscht, hoffentlich kommt jetzt niemand rein, denke ich, Mama mag es nicht, wenn wir ins Schlafzimmer gehen.
Da steht er doch, Joachim, gleich unter meiner Nummer steht er. Lustig, oder, dass wir gleich untereinanderstehen, sagt Jameelah und grinst, komm, da rufst du jetzt an.
Mein Kopf fängt an zu wummern.
Du spinnst ja, sage ich.
Wieso?
Ich hab seit Ewigkeiten nicht mit ihm gesprochen.
Na, dann doch erst recht, sagt Jameelah.
Ich kann das nicht.
Komm schon, ist doch nur dein Vater!
Nein, sage ich, auf keinen Fall.
Na gut, sagt Jameelah, schnappt sich den Kuli, der auf dem Tisch liegt, und schreibt sich die Nummer auf den Arm, dann ruf ich da jetzt an.
Zusammen ziehen wir die Tagesdecke glatt und gehen zurück in mein Zimmer. Ich schließe die Tür vorsichtshalber ab.
Wie früher, sagt Jameelah und stellt ihr Handy auf anonym.
Was, wie früher?
Scherzanrufe. Hallo, Sie haben im Lotto gewonnen, hallo, Ihr Haus wird morgen abgerissen, weißt du noch?
Gar nicht wie früher, sage ich, und überhaupt, was willst du ihm denn sagen?
Weiß noch nicht, sagt Jameelah, tippt die Nummer ein und schaltet auf laut. Nervös wippe ich auf dem Bett herum. Es klingelt.
Hallo?
Von einer Sekunde auf die nächste ist Papa da, am Telefon, aber jemand muss mir irre Mengen Watte in die Ohren gestopft haben, ich kann nämlich plötzlich kaum was hören, mir rauscht das Blut in Lichtgeschwindigkeit hoch in den Kopf und wieder runter in die Beine, alles pocht und zischt und rumpelt, Herz, Lunge, Magen. Von ganz weit weg höre ich Jameelah mit Papa reden.
Hallo Joachim, na, wie gehts?
Wer ist denn da, höre ich Papa sagen.
Wie jetzt, sagt Jameelah, ganz überrascht tut sie, kennst du mich denn gar nicht mehr?
Ich glaube nicht, sagt Papa und lacht.
Ist ja auch schon Jahre her, sagt Jameelah.
Genau ein Lichtjahr ist es her, genau ein Lichtjahr, dass ich Papa das letzte Mal lachen gehört habe, das Wohnzimmer stockdunkel, ich auf seinem Schoß, überall Salzstangenkrümel, vor uns der flimmernde Fernseher und Bud Spencer, der allen auf die Fresse haut. Ich höre es noch ganz deutlich, Bud Spencers Faustschläge und Papas Lachen.
Dreimal darfst du raten, sagt Jameelah zu Papa.
Papa lacht wieder, diesmal klingt es unsicher.
Ich weiß es wirklich nicht, höre ich ihn sagen, es rauscht in der Leitung, so als ob einem der Wind ins Handy pustet.
Tut mir leid, sagt Papa, Sie haben sich sicher verwählt.
Nein, das habe ich bestimmt nicht.
Leg auf, flüstere ich, aber Jameelah hört gar nicht hin.
Mach es wie die Sonnenuhr, zähl die heitren Stunden nur.
Wie bitte, sagt Papa.
Mach es wie die Sonnenuhr, sagt Jameelah wieder, zähl die heitren Stunden nur. Was ist das eigentlich für ein dummer Spruch?
In der Leitung wird es auf einmal ganz still. Mein Kopf und mein Herz wummern um die Wette.
Nini, bist du das, sagt Papa.
Bevor
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