Tigermilch
hindurch auf die Stadt. Hier oben in der Linde ist es schon dämmrig, aber der Rest der Stadt leuchtet noch, weiter im Westen kann man den Funkturm sehen, sieht aus, als ob er brennt, weil dahinter die Sonne versinkt.
Du darfst nicht böse auf Jameelah sein, sagt Amir.
Ich bin nicht böse, wieso?
Weil sie nicht zur Polizei gehen wollte, meine ich.
Ach so.
Sie wollte sich nicht einmischen, weißt du.
Ich weiß, sage ich, aber wenn Nico nicht gewesen wäre, dann würdest du jetzt noch im Gefängnis sitzen.
Jetzt ist Tarik dort, das ist genauso schlimm.
Aber Tarik ist doch schuld.
Ja, sagt Amir, ich weiß, aber trotzdem. Hast du den Karton eigentlich noch?
Nein, habe ich weggeschmissen, so, wie du gesagt hast.
Gut.
Wie lange bleibt Tarik im Gefängnis?
Lange, sagt Amir, und wenn es vorbei ist, vom Gefängnis direkt zum Flughafen und dann nach Sarajevo und von da nach Wischegrad.
Ich reiße ein Blatt ab und zerreibe es zwischen den Fingern.
Warst du schon einmal dort, frage ich.
Lass das, sagt Amir und nimmt mir das Blatt aus der Hand, dann schaut er zwischen den Blättern hindurch an mir vorbei in Richtung Osten und schüttelt den Kopf.
Tarik ist dort geboren, sagt er, sie haben dort gelebt, Babo, Majka und Tarik. Tarik hatte ein rotes Fahrrad, es gibt ein Foto von ihm, da fährt er in einer Badehose auf einem roten Fahrrad, die Sonne scheint, so wie heute, weißt du, er ist Fahrrad gefahren, normal, mit zwei gesunden Beinen, sagt Amir, aber dann kam der Krieg. Babo ist zur Armee, nichts wurde besser, alles nur schlimmer und gefährlicher. Da hat Majka Tarik genommen. In Wischegrad ist eine Brücke, eine sehr alte Brücke vom Mittelalter noch, dort fließt ein Fluss lang. Majka wollte über die Brücke. Da waren Tschetniks auf der Brücke. Sie wollte umdrehen, aber die Tschetniks sind ihr hinterher. Tarik hat geschrien und wollte ihr helfen, da hat einer von denen ihm ins Bein geschossen.
Amir zerfleddert das abgerissene Blatt in seiner Hand und zerreibt es zwischen den Fingern.
Sie haben sie vergewaltigt, flüstert er, dann haben sie Tarik an ihren Körper gebunden und in den Fluss geworfen. Tarik hat es mir erzählt, in der Nacht, wo alles passiert ist. Danach bin ich zur Polizei gegangen. Von allein. Tarik hat mich zu gar nichts gezwungen. Und Majka auch nicht, niemand hat mich gezwungen, das behaupten nur alle, weil sie immer einfache Erklärungen suchen für alles, sie wollen alles auf einmal verstehen, viele Sachen, die nichts miteinander zu tun haben. Aber die Wahrheit ist nicht wie Mathe, sie ist immer was Einzelnes, und sie ist nie logisch.
Der rote Ball am Himmel verschwindet hinterm Funkturm, es ist schon fast Nacht hier oben in der Linde.
Wischegrad, sage ich, das klingt eigentlich schön. Nach Wiese und nach Fischen.
Ja, sagt Amir, das denkt man so. Aber das ist immer so, die Orte, in denen schlimme Sachen passieren, klingen immer schön, entweder lustig oder schön, ist dir das schon mal aufgefallen?
Ja, sage ich, bei Fukushima habe ich das gedacht.
Oder Auschwitz, sagt Amir, Auschwitz, klingt doch wie ein Witz, oder. Das macht das Ganze noch schrecklicher, weißt du, es ist wie Poesie, das Schlimme und das Lustige zusammen, das Leben mag so was.
Meinst du?
Ja, sagt Amir, das ist extra so. Das ist das Leben. Wenn was zu schön ist, muss was kommen, das es zerstört, sonst ist es nicht das Leben, weißt du.
Die Nacht hat sich auf sein Gesicht gelegt, nur das Weiße in seinen Augen, vier kleine Halbmonde, leuchten mich an.
Wo hat sie gelegen, fragt er.
Ich schaue runter auf den Boden, auf die trockene Erde neben dem Stamm.
Da.
Wo genau?
Da, sage ich und zeige nach unten, gleich neben unserer Murmelkuhle.
Und, sagt Amir, wie hat sie ausgesehen?
Was meinst du, sage ich.
Ich meine am Ende. Wie hat sie ausgesehen?
Ich starre auf die Stelle, an der Jasna gelegen hat. Ihr weißes enges T-Shirt, darunter Blut, das ihr links aus der Seite läuft und in den Boden sickert, im Mundwinkel rosagelbe Kotze und die Augen, wie bei diesem YouTube-Video, wo ein Haufen Männer eine Frau in irgendeinem heißen Land durch die Straßen jagen und am Ende gemeinsam umbringen.
Los, sag.
Friedlich, sage ich.
Echt?
Ja. Ganz friedlich.
Vor der Haustür steht Rainers Taxi. Ich gehe durch den Hinterhof, die Treppen hoch und suche nach dem Wohnungsschlüssel, aber kaum schiebe ich ihn ins Schloss, geht die Tür auf. Mama zerrt mich an den Haaren in den Flur, und im nächsten Moment habe ich
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