Tijuana Blues
erinnerst du dich an den Satz von Eraclio Zepeda: Alle Wege gehören uns‹? Das Erbe von Flores Magón und Durruti lebt. Nur auf eine andere Weise, mit einer anderen Geisteshaltung.«
»Ja, ja. Jetzt sind wir alle Mystiker.«
»Nein, Atanasio. Es ist vorbei mit den Zauberkugeln, und auch die Wunderlampen haben ausgedient.«
»Und was dann?«
»Was dann? Das, was man selbst erreichen, gut machen kann. Das andere kommt von allein.«
Auf der Fahrt zur Universität ging Morgado die Ereignisse des vergangenen Abends noch einmal durch: Trinidad Rodríguez’ Zynismus, Eloísas aggressive Sexualität und Jimmys direkte Art verschmolzen zu einem einzigen Bild: Provokationen und Fallen, Freundschaft und Rausch fügten sich zu einer Wahrheit. Die Fährten waren so falsch, dass sie ihm schon wieder richtig vorkamen. Wenigstens war die im Koffer inmitten der schmutzigen Wäsche liegende Pistole ein Zeichen, dass er sich noch nicht mit der ihn umgebenden Gewalt verbündet hatte. Morgado fühlte sich ohne die 45er geschützter als mit ihr. Er sah sich so eher in der Lage, einer Welt die Stirn zu bieten, in der jemand ein Kopfgeld auf ihn ausgesetzt hatte.
»Kennst du das Treinta-Treinta?«, fragte Morgado, um das Thema zu wechseln.
»Ja. Dort hat Doña Matilde Saldívar das Sagen. Sie ist schon über zwanzig Jahre im Geschäft. Ein Traditionsbordell. Von denen, die sogar dein Großvater kennt.«
»Wie ist sie?«
»Knallhart. Um so lange zu überleben, muss sie das auch sein. Es heißt, es gehen ein paar Tote auf ihr Konto. Ich bezweifle das nicht.«
»Sie kann der Schlüssel zu dem Ganzen sein.«
»Wie kommst du denn darauf?«
»Eine vertrauliche Information. Apropos, hast du einer von Heribertos Töchtern meine Zimmernummer gegeben?«
»Ja. Eloísa, meinem Patenkind. Tolle Figur, was?« Atanasio zwinkerte Morgado zu.
»Mit dir kann man nicht ernst reden«, erwiderte der.
»Und mit dir kann man keine Witze machen.«
Atanasio stellte den Wagen ab und reichte Morgado die Autoschlüssel. »Er gehört dir. Ich weiß, dass dir die Zeit gerade noch reicht, ins Altersheim zu deinem Vater zu fahren und zu dem Treffen mit Lizárraga, aber nächstes Mal würde ich dir gerne das Institut zeigen und dich einem Fachmann für Glücksspiel vorstellen. Ein Forschungskollege, der versichert, historisch gesehen gehe die Errichtung der Grenze auf die Prostitution, den Schmuggel und den Opiumhandel zurück. Er sagt, wir hätten der ›Unbekannten Hure‹ als Symbol der Grandezza von Baja California ein Denkmal errichten sollen.«
»Ich glaube, mit dem würde ich mich verstehen.«
»Da bin ich mir sicher.«
Als er ausstieg, warf Atanasio einen Blick auf das Gewimmel der Stadt. »Und pass auf dich auf. Hier pflegt man die Leute einfach so umzubringen.«
»Mach dir keine Sorgen. Das hat man mir schon deutlich gemacht.«
Und ohne ihm Gelegenheit für weitere Kommentare zu geben, startete Morgado den Wagen und war innerhalb weniger Sekunden im Verkehr verschwunden.
13
Der alte Mann lebte in seinen Traumgespinsten, in einem Knäuel aus Halbwirklichkeiten. In gewisser Weise war er glücklich, auch wenn er an den Rollstuhl gefesselt war. Und Morgado beneidete seinen alten Herrn darum. Er fühlte sich elend und bedrückt. Was ist mit den Menschenrechten meines Vaters, fragte er sich reumütig, als er ihn so sah. Wie oft war ich nicht für ihn da?
Der alte Mann saß gerne stundenlang schweigend im Hauptflur des Altenheims und betrachtete den schmalen Garten, der nur von einer Palme und ein paar Blumentöpfen mit Geranien geschmückt war. Manchmal erzählte er immer wieder dieselbe alte Geschichte. Seine Geschichte. Es war, als spräche er nur für sich.
»Das erste Geschenk meines Lebens bekam ich von meinem Vater. Eine riesige Pistole, die ich kaum in den Händen halten konnte. Ich war fünf Jahre alt. Ich habe hier irgendwo ein Foto, wo ich mit ihm drauf bin. Es wurde in Chinicuila del Oro gemacht, an einem Sonntag, nach der Messe. Aber am besten erinnere ich mich an das Geschenk, das er mir gab, als ich die Grundschule beendet hatte. Eine richtige Geige. Aus Paracho, sie hatte eine bräunlich rote Farbe. Wunderschön. Und wie gut sie klang! Onkel Arcadio steckte mich in das Dorforchester. Jeden Sonntag gaben wir ein Konzert, und unter der Woche spielten wir Ständchen für die Freundinnen der Farmer. Ohne uns gab es keine Tanzveranstaltung, die es wert gewesen wäre hinzugehen. Walzer und Polkas. Es flossen aguadiente und
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