Tijuana Blues
Mann weg.
Genau in diesem Moment kam Atanasio.
»Sag mal«, fragte ihn Morgado, »glaubst du, dass ich die Durchgeknallten anziehe, oder sind die Flughäfen jetzt öffentliche Irrenhäuser?«
Atanasio wusste nicht, was er sagen sollte.
»Hast du den Alten gesehen, der da gerade gegangen ist?«
»Ja.«
»Er hat mir eine seltsame Geschichte erzählt. Science-Fiction.«
»Über Klimaanlagen, vermute ich.«
Morgado war überrascht. »Woher weißt du das?«
»Dieser Alte ist alles andere als verrückt. Er ist Multimillionär. Er war der Erste, der in das Geschäft mit den Klimaanlagen in Mexicali eingestiegen ist. Er ist ein Exzentriker, aber er ist nicht gaga.«
Morgado verschlug es die Sprache.
Atanasio kümmerte sich nicht darum und übergab ihm ein Buch mit schwarzem Einband. »Ich hatte vergessen, es dir zu geben. Es ist von einem englischen Schriftsteller, Graham Greene. Lektüre für die Reise. Ich hoffe, es gefällt dir. Es heißt Gesetzlose Straßen. Es handelt von seiner Reise nach Mexiko, von der Grenze in den Dreißigerjahren.«
»Danke«, stotterte Morgado.
»Ich habe zu danken. Du hast dich vorbildlich verhalten. Was du gemacht hast, kann man nicht mit Geld aufwiegen.«
»Komm, werde jetzt bloß nicht sentimental.«
24
Der Mixteke ging langsam, geräuschlos. Seine Frau folgte ihm ein paar Schritte dahinter. Es war zehn Uhr abends, und sie hatten noch zwei Stunden Weg vor sich, bis sie zu der Ranch in der Nähe von Browley kamen, wo ein Lieferwagen auf sie wartete, der sie nach Los Angeles bringen würde.
Ihnen blieb kaum Zeit, sich auf den Boden zu werfen, als die Scheinwerfer eines Wagens der migra das Luzernenfeld erleuchteten, das sie gerade durchqueren wollten. Sie waren so nah, dass sie die Stimmen der Beamten hören konnten, die Scherze und Flüche, die sie sich auf Spanisch zuriefen. Dann fuhr der Wagen in Richtung Süden.
Der Mixteke hätte sich gern hingesetzt und etwas auf seiner Geige gespielt, aber er hatte sein Arbeitsinstrument nicht mehr. Dank der zweihundert Dollar, die er dafür bekommen hatte, hatte er den Fluchthelfer bezahlen können, der auf sie wartete. Es war kein Mond zu sehen. Sie waren nur von der Musik der Sterne umgeben.
Schweigend setzten sie ihren Weg fort, den Blick starr nach Norden gerichtet.
Der alte Mann erwachte in seinem Zimmer, und das Erste, was er sah, war die Geige auf dem Tisch. »Was ist das?«, wollte er wissen.
Die Krankenschwester legte sie in seine Hände. »Ein Geschenk Ihres Sohnes.«
Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Das kann nicht sein. Ich habe keine Kinder, und ich bin auch nicht verheiratet. Ich unterstehe dem Befehl von General Cárdenas.«
»Wie Sie meinen, Don Miguel.«
Der alte Mann richtete sich im Bett auf. »Das hat mir mein Vater gebracht. Ich habe die Grundschule mit einem guten Zeugnis abgeschlossen. Nur eine Zwei, sonst alles Einser.«
»Glückwunsch, Don Miguel. Warum spielen Sie nicht ein wenig? Mal sehen, wie sie klingt.«
Der alte Mann streichelte die Geige. »Ich weiß nicht mehr, wie das geht.«
Die Krankenschwester hatte das Zimmer hergerichtet, aber bevor sie hinausging, schaute sie den Patienten an und sagte: »Versuchen Sie es. Was kostet es Sie?«
Als sie über den Flur ging, lachte sie, und ihre Augen strahlten vor Freude. Hinter ihr spielte Don Miguel die ersten Takte eines mixtekischen Liedes. Zum Erstaunen ihrer Arbeitskolleginnen fing sie an zu singen.
Wie weit bin ich von dem Himmel entfernt,
unter dem ich geboren ward!
Große Wehmut erfasst meine Gedanken;
Und wenn ich mich so einsam und traurig sehe
wie ein Blatt im Wind,
Möchte ich weinen und vor Trauer sterben.
25
Nach zwanzig Minuten Flug sah Morgado durch das Fenster, wie die ausgedehnte Halbinsel von Baja California und das grüne Mar de Cortés sich in der Ferne verloren. Dann schlug er das Buch auf, das Atanasio ihm geschenkt hatte, und als er die ersten Zeilen las, spürte er, wie sich mit einem Schlag, fast explosionsartig, etwas enthüllte: »Grenze bedeutet mehr als ein Zollhaus, Passkontrolle und eine Wache unter Gewehr. Drüben wird alles anders sein, wenn man einmal seinen Pass gestempelt hat und sich ohne Sprache unter den Geldwechslern befindet. Der Landschaftsenthusiast träumt von unbekannten Wäldern und unbetretenen Gebirgen; der Romantiker glaubt, dass die Frauen jenseits der Grenze schöner und williger sind als daheim; der Unglückliche erwartet zumindest eine andere Hölle und der
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