Tijuana Blues
auswendig.«
»Die beste oder die gutmütigste?«, erwiderte die Jüngerin von Klio. »Bei dir weiß man nie, wie es gemeint ist.«
»Verzeih mir«, sagte Morgado, in der Defensive. »Ich werde dich nie mehr um etwas bitten, wozu du nicht bereit bist.«
Morgado wusste, dass das Gewitter sich legte, als Aidés tadelnder Ton nachließ. »Heute will ich mal nicht so sein, Miguelito. Hier sind die Fotokopien. Eine meiner Hilfskräfte im Staatsarchiv hat einen ganzen Tag mit diesem Kram zugebracht.«
Morgado nahm den dicken doppelten Umschlag mit einer Mischung aus Verwirrung und Skrupeln entgegen. »Um welche Zeitungen handelt es sich?«
» Excélsior und El Universal von September 1951 bis Dezember desselben Jahres. Und El Nuevo Mundo von Dezember 1951 und Januar 1952. Nur der Teil Polizeiberichte. Die beiden ersten sind aus Mexico City, wie du wahrscheinlich weißt. Die letzte erscheint in Baja California, in Tijuana.«
Morgado legte den Umschlag auf ein Tischchen.
»Willst du ihn nicht aufmachen?«, fragte seine Gastgeberin.
»Später. Was mich interessiert, ist: Wie war Tijuana damals, wie lief der Hase?«
»Wie meinst du das? Politisch? Wirtschaftlich? Gesellschaftlich?«
»Alles.«
Aidé streckte die Hand aus und griff nach einem dicken schwarzen Buch auf ihrem Schreibtisch. »Hier findest du die Antworten, die du suchst«, sagte sie schulmeisterlich.
Morgado wiegte das dicke Buch misstrauisch in der Hand. »Seit ich mich auf diesen Fall eingelassen habe, will mich jeder zum Lesen anhalten.«
»Es wurde auch Zeit«, erwiderte die Historikerin. »Wenn es etwas Ungebildeteres gibt als Rechtsanwälte, dann bestenfalls Ingenieure. Und das will was heißen. Aber das Buch wird dir gefallen. Es heißt El otro México. «
»Und das ist kein unverdaulicher Schinken?«
»Ganz und gar nicht. Es ist ein Reisebericht. Er stammt von Fernando Jordán, einem Reporter der Zeitschrift Impacto. Erschienen 1951. Es wird dir helfen, dich in der Zeit zurechtzufinden.«
»Und wer war Jordán?«
Aidé wandte Hilfe suchend den Blick zum Himmel. »Einer, der auf die Halbinsel von Baja California reiste und so fasziniert von Land und Leuten war, dass er dort blieb.«
»Lebt er noch?«
Aidé seufzte. »Nein. Er hat sich umgebracht. Oder man brachte ihn um, weil er ein Verhältnis mit einer verheirateten Frau hatte. Wer weiß, was davon wahr ist. Aber laut denen, die ihn kannten …«
Morgado schob das Buch in seine Aktentasche. »Sprich nicht weiter«, flehte er. »Wenn ich noch so ein Verbrechen unter Literaten ertragen muss, dann lege ich die Ermittlungen nieder. Ich schwöre es dir.«
»Du bist einfach nicht belastbar«, versicherte ihm Aidé. »Unsere Halbinsel ist voll mit ungeklärten Verbrechen. Von Literaten und Nicht-Literaten.«
»Es muss am Tequila-Kater liegen«, sagte Morgado, »aber mein Magen verträgt keine weitere Geschichte mehr.«
»Dann leg dich hin. So nützt du mir nichts. Ich wollte dir meine Doktorarbeit vorlesen, über Bewässerung und internationale Politik in der Ebene von Mexicali in der Ära Carranza unter besonderer Berücksichtigung der Frage von Grenzen und Gewässern im Kontext des Ersten Weltkrie …«
Morgado flüchtete stolpernd über den Flur. Die Geschichte spukte weiter in seinem Kopf, rasselnd wie eine Klapperschlange vor dem Zuschlagen, und ließ die Kopfschmerzen immer schlimmer werden.
5
Es war schon Mitternacht, und Morgado war immer noch in den Stapel Fotokopien vertieft. Sie hatten ihn bei seinen Ermittlungen nicht sehr viel weitergebracht. Die Sache mit Burroughs stand nur ein paar Tage im Schlaglicht der Presse. Morgado vermutete, dass Bernabé Jurado genügend Geld verteilt hatte, damit die Journalisten den Fall nicht hochspielten. Und dass er dasselbe mit den Richtern und Gefängniswärtern gemacht hatte. Das Beste: Jurado hatte Burroughs gegenüber seinen Teil des Deals erfüllt. Er hatte ihn mit Lichtgeschwindigkeit aus dem Gefängnis geholt und sich in bar für seine Dienste entlohnen lassen, so dass der Schriftsteller mittellos dastand. Burroughs musste sich in tiefster Depression befunden haben. Frau weg. Geld weg. Freunde weg. In einem fremden Land. Da war es klar, dass er sich an den Erstbesten klammerte, der ihm über den Weg lief. Wie Timothy. Aber wenn er kein Geld hatte, wie war er dann an das Heroin gekommen? Wer hatte ihm das Geld dafür gegeben?
Morgado sah sich noch einmal die Fotos an und konzentrierte sich auf das mit Allen Ginsberg. Auf der
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